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Leserfrage: Vertrauen wir zu viel?

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Leser H. schreibt

Ich kümmere mich schon seit 20 Jahren um meine Finanzen und habe es jetzt, mit knapp 40 Jahren alles andere als bereut.
Eine Sache fehlt mir allerdings noch für die endgültige Tiefenentspannung bei der Geldanlage: Das volle Vertrauen in die Beständigkeit des Systems. Entweder dass die Politik einzelner Länder umschlägt und es zu Enteignung oder zu Defakto-Enteignung durch Inflation und extreme Besteuerung kommt, oder aber dass es zu Unregelmäßigkeiten beim Broker oder Fondsgesellschaften kommt.
Vertrauen wir zu viel?
Sind wir naiv, weil wir über Jahrzehnte Geld einzahlen und als einzige Garantie dafür digitale Zahlen auf dem Bildschirm sehen?
Nicht einmal wie früher Aktienurkunden in den Händen halten?
Was wäre, wenn nach einem groß angelegten Cyberangriff der Depotstand auf Null stünde? Wie würde ich beweisen können wie hoch der Stand sein müsste?
Was ist wenn Chinas/Russlands/Indiens… Regierung ausländische Anleger enteignet?
Ich habe deswegen keine schlaflosen Nächte. Aber wenn ich gefragt werde auch keine Antwort hierauf.
Außerdem würde ein diesbezüglich hohes Risiko – entgegengesetzt zu Kommer – eine Höhergewichtung von Gold, inländischen Immobilen und einen Homebias bei deutschen Aktien rechtfertigen.
Was ist Ihre Meinung hierzu? Wie hoch schätzen Sie Risiko und Schadenshöhe ein?

Der Finanzwesir antwortet

Lieber H. ich schließe mich Ihnen an:

"Ich habe deswegen keine schlaflosen Nächte. Aber wenn ich gefragt werde auch keine Antwort hierauf."

Damit ist alles gesagt und wir können uns wieder dem Leben zuwenden.

Aber schauen wir doch einmal genauer hin: Leser H. kümmert sich seit 20 Jahren um seine Finanzen. Seit 20 Jahren heiß: Seit 1996.

Was war so los in den letzten 20 Jahren?

  • 1996: Bill Clinton wird wieder gewählt, der Internet-Boom beginnt auch in Deutschland, die Telekom geht an die Börse.
  • 1997: Lady Di stirbt
  • 1998 / 1999: Kosovo-Krieg, Zweiter Tschetschenienkrieg, die RAF erklärt ihre Auflösung, SAP geht an die Börse
  • 1999: Jar Jar "Michse" Binks tritt in unser Leben.
  • 2000: Die Dotcom-Blase platzt, der Neue Markt stürzt von seinen Höchstständen in den Keller
  • 2001: 11 September, Apple stellt den ersten iPod vor
  • 2002: Der Euro kommt
  • 2003: Die Börse Frankfurt wickelt den Neuen Markt ab. Der zweite Irakkrieg beginnt
  • 2004: Der Weihnachts-Tsunami in Südostasien tötet rund 230.000 Menschen
  • 2008 / 2009: Sub-Prime-Krise
  • 2009: Die Abgeltungssteuer und die Reform der Erbschaftsteuer tritt in Kraft.
  • 2011: Kernschmelze in Fukushima
  • 2014: Ebola in Westafrika
  • in allen 20 Jahre: Im Nahen Osten brennt es immer irgendwo.

Eine ganze Menge ist passiert. Aber wir sind noch da. Niemand - auch ich nicht - kann

"Risiko und Schadenshöhe einschätzen".

Wer das behauptet, lügt.

Die Sorgen im Einzelnen

"Was ist wenn Chinas/Russlands/Indiens… Regierung ausländische Anleger enteignet?"

Warum sollten diese Volkswirtschaften das tun? Nur weil in China und Russland nicht unbedingt lupenreine Demokraten an der Macht sind? Warum soll ein autoritäres Regine unbedingt schlecht für Anleger sein?
Die Inder sind eine junge Nation, die nach vorne will. Hier wollen eine Milliarde Menschen ein Haus mit Strom und fließend Wasser, ein Auto, Netflix auf einem einem 65-Zoll-Fernseher und eine jährliche Fernreise. Das kostet einen Haufen Geld. Warum sollte Indien ausländischer Anleger verjagen?

"Außerdem würde ein diesbezüglich hohes Risiko – entgegengesetzt zu Kommer – eine Höhergewichtung von Gold, inländischen Immobilen und einen Homebias bei deutschen Aktien rechtfertigen."

Ach wirklich? Warten Sie mal ab, bis meine Generation, die geburtenstarken Jahrgänge in Rente geht. Ein Fünftel (22%, laut statistischem Bundesamt) ist kinderlos. Denen ist die Zukunft egal, die denken nicht weiter als bis zu ihrem Tod.
Aber auch wir Eltern wollen nach einem Arbeitsleben unsere wohlverdiente Rente haben und werden die Regierung wählen, die das möglich macht.
Sehr gut zu besteuern sind die reichen Immobilienbesitzer. Das pfeifen ja die Spatzen von Dächern: "Ein durchschnittlicher Immo-Besitzer ist reicher als ein durchschnittlicher Mieter."
Was die deutschen Aktien angeht: Welche wären das? Etwa Adidas? Eher nein, 91% des Kapitals werden von Ausländern gehalten. Oder die Bayer AG? Auch nicht. 80% des Kapitals sind in nichtdeutscher Hand.
Mit anderen Worten, wann ist eine Firma deutsch?

  • Wenn sie mal in Deutschland gegründet wurde?
  • Wenn sie ihren Hauptsitz in Deutschland hat?
  • Wenn Sie tatsächlich in Deutschland Steuern zahlt?
  • Wenn die Aktionäre überwiegend aus dem Inland kommen?
  • Wenn die Vorstandsvorsitzende nicht Taj Mahal, sondern Erika Mustermann heißt?
  • Wenn am Werkstor ein deutscher Schäferhund wacht?

"Oder aber dass es zu Unregelmäßigkeiten beim Broker oder Fondsgesellschaften kommt."

Das wird garantiert vorkommen. Das nennt man Betrug und dagegen gibt es Gesetze. Sie als Anleger können dieses Risiko minimieren, indem Sie sich für einen renommierten und regulierten Anbieter entscheiden und der superbilligen Klitsche aus Zypern einen Korb geben.

Das Gold würde ich überspringen. Entweder die Verhältnisse sind zivilisiert, dann bringt Gold als Rohstoff keine Rendite.
Wenn wenn es unzivilisiert wird, halte ich ein Haus mit Garten, einen Waffenschein, handwerkliche Qualitäten und gute Freunde für wichtiger. Gold oder Axt? Ich nehm’ die Axt. Und dann Ihr Gold.

"Was wäre, wenn nach einem groß angelegten Cyberangriff der Depotstand auf Null stünde? Wie würde ich beweisen können wie hoch der Stand sein müsste?"

Nun, ich hoffe auf das Backup der Banken und Broker. Ja, das ist nur eine Hoffnung. Aber wenn ich von Hamburg nach München fliege, hoffe ich auch auf einen nüchternen Piloten, einen genau arbeitenden Fluglotsen und darauf, dass beim Landenanflug in München keine bayrisch-sturköpfige "Mir-san-mir"-Krähe in die Turbine gerät.
Will sagen: Das ganze Leben ist eine Kette von Hoffnungen.
Aber als alter, analoger Mann habe ich noch ein Ass im Ärmel: Ich drucke das Internet aus. Ich habe keine coole Fintch-App, sondern drucke jede jämmerliche Depotbewegung aus. Ich werde die Cyberkrieger unter einem Papierberg begraben.

Was also tun?

Das Fachwort der Stunde heißt Resilienz (von lat. resilire "zurückspringen", "abprallen").

Die Resilienz, auch psychische Widerstandsfähigkeit genannt,

"ist die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen."
Quelle

Was bedeutet:

  1. Rückgriff auf persönliche Ressourcen = Nicht alles in einen Korb legen. Die Kriegskasse muss immer noch ein paar Euros hergeben.
  2. Rückgriff sozial vermittelte Ressourcen = Freunde muss man haben.

Na ja, aber im Kern ist es das platte: Die Krise als Chance. Der Mensch wächst am Widerstand, diese ganzen Sprüche aus dem Poesiealbum der Motivations-Gurus.

Vertrauen wir zu viel?

Keine Ahnung. Das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Fakt ist: Vertrauen senkt die Transaktionskosten. Wenn ich vertraue, muss ich nicht mehr prüfen. Prüfen kostet Zeit und Geld.
Sie müssen für sich selbst entscheiden: "Wie balanciere ich zwischen Vertrauen und Kontrolle."

Was ich gar nicht mag

Wenn jemand diese - grundsätzlich unlösbaren Probleme - als Vorwand nimmt nichts zu tun.
Ja, die Probleme, die Leser H. anspricht sind wichtig und und des Nachdenkens wert. Aber da sie grundsätzlich unlösbar sind, müssen wir uns damit abfinden und auf Sicht fliegen.
Immer wieder schreiben mir Leser: Sie wären jetzt bereit, ETFs zu kaufen. Aber erst müsse ich meine Glaskugel schauen und ihnen sagen, wie es nach dem Brexit / in China / mit der deutschen Rentenversicherung… weitergeht.
Bevor sie das nicht wissen, könnten sie unmöglich das Risiko eines ETF-Kaufes eingehen.
Ich empfehle in meiner Antwort-Mail dann immer ein gutes Tagesgeldkonto.

Fazit

Das Leben ist Game of Thrones. Tiefenentspannung gibt’s nicht.


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