Leser R. fragt
Was tun bei einem Anlagehorizont von 10 bis 15 Jahren?
Wie das so ist. Haus gekauft. Kinder groß gezogen und nun war im letzten Jahr die Hypothek nicht mehr für die Bank sondern für mich.
Hab mir gedacht das Geld soll jetzt mal für mich arbeiten und mir nach Lektüre deines und anderer Blogs die klassischen ETF gekauft. Per Sparplan und als Aktion ohne Ausgabegebühren.
Nun kann ich in dem oben angegebenen Anlagehorizont nicht drauf warten, dass China ein Hightech-Land wird oder Russland eine Demokratie.
Auf der anderen Seite liegen die Zinsen bei Festgeld und Co so niedrig, dass ich das Geld auch ins Kopfkissen einwerfen kann.
Macht es Sinn trotzdem in ETFs World und EM zu investieren oder siehst Du andere Möglichkeiten?
Die Sparrate könnte schon fast vierstellig sein, aber das Risiko kennt ja nur Prozente.
Ich denke, dass hier auch andere "rumturnen", deren Anlagehorizont nicht zwanzig oder mehr Jahre ausmacht.
Der Finanzwesir antwortet
Zum Thema "Anlagehorizont" lässt sich folgendes sagen
Haltedauer
Wer sich die Renditedreiecke des DAX und des Euro STOXX ansieht stellt fest: Nach 10 Jahren bin ich im Plus. So war es - mit Ausnahme der Dekade von 1999 bis 2009 (-1.5% pro Jahr) - in den letzten 50 Jahren beim DAX und seit 1986 beim Euro STOXX. Das ist selbstverständlich keine Garantie für die Zukunft, lässt einen aber begründet hoffen, dass es so bleibt. Aktien werden umso sicherer, je länger man sie hält. R.s Anlagehorizont ist ausreichend lang, um von diesem Phänomen zu profitieren.
Zinseszins
- Die erste Dekade: Es tut sich nicht viel. Das Vermögen steigt vor allem durch die Sparleistung.
- Die zweite Dekade: Langsam weicht die Enttäuschung der ersten Dekade einer gewissen Zufriedenheit, denn es kommen doch schon einige Zins-Euros zusammen. Trotzdem dominiert immer noch die Sparleistung.
- Die dritte Dekade: Langsam fragt man sich: "Warum tue ich das hier eigentlich? Ich spare seit 24 Jahren und das, was an Zins-Euros abfällt ist schon "ganz ok". Wo bleibt die Zinseszislawine?" Dank des Sunk-cost-Effekts (nun habe ich schon soviel investiert, dann mache ich halt weiter) spart man trotzdem weiter. Dann öffnet man nach 29 3/4 Jahren seinen Geldspeicher und wird von der Flut der Zinseszins-Euros fast davongespült. So geht Zinseszins.
Fazit: Davon kann R. nicht profitieren.
Was soll R. jetzt machen?
Na, einfach weitermachen. Seine ETF-Käufe werden mit ziemlicher Sicherheit ein Plusgeschäft. Auch wenn er nur begrenzt vom Zinseszins-Effekt profitiert.
Leider nein, so einfach ist das nicht. Er schreibt
"Auf der anderen Seite liegen die Zinsen bei Festgeld und Co so niedrig, dass ich das Geld auch ins Kopfkissen einwerfen kann.
Die Sparrate könnte schon fast vierstellig sein, aber das Risiko kennt ja nur Prozente.
… oder siehst Du andere Möglichkeiten?"
Das könnte man auch so formulieren: Lieber Finanzwesir, ich will die 8%-Bundesschatzbriefe meiner Jugend wieder haben. Weißt Du, wo die sich versteckt haben?
Diese Sätze zeigen: Es geht nicht darum an der Börse zu investieren, sondern darum, den niedrigen Zinsen zu entkommen. Aber wie ich schon schrieb: Niedrigzinsen sind kein Grund, an die Börse zu gehen.
Wer nicht von der Sinnhaftigkeit eines Börsenengagements überzeugt ist, wird beim ersten Windhauch verkaufen. Und nach sieben guten Börsenjahren wird eine Kurskorrektur kommen. Das ist nur eine Frage der Zeit.
Das ist wie im echten Leben: Die Leute, die eine Sache nur des Geldes wegen machen, sind bei der ersten Schwierigkeit weg. Übrig bleiben die Überzeugungstäter.
Aber ein Börsenengagement ist doch alternativlos!
Schon alleine wegen der Renditen. Nur an der Börse kann man überhaupt noch Renditen erwirtschaften, die diesen Namen verdienen.
Soweit die Apologeten der Börse.
Ich sage: Das stimmt alles, man muss aber zwischen der Excel-Rendite und der Echte-Leben-Rendite unterscheiden.
- Excel-Rendite: Die theoretische Rendite einer Anlageklasse. Vom gefühllosen Homo Oeconomicus in Excel berechnet. Diese ist wahrlich überlegen, aber eben nur eine Zahl in der Zelle C15 des Tabellenkalkulationsprogramms.
- Echte-Leben-Rendite: Die Excel-Rendite verlässt das Theoriegebäude und setzt sich dem Psycho-Terror des wahren Lebens aus. Angst und Gier setzen ihr zu und sie schmilzt dahin. In der Praxis kann das dazuführen, dass ein Tagesgeldkonto mehr Rendite abwirft als ein breit gestreutes ETF-Depot. Wer seine ETFs mit 40% Verlust verkauft, holt das niemals wieder auf.
R. ist nicht erfolglos, er ist nur untrainiert. Wer ein Haus erfolgreich abzahlt und Kinder großzieht, kann stolz auf sich sein.
- Haus abgezahlt = Kann wirtschaften und hat einen gut bezahlten Job.
- Kinder groß gezogen = Kann wirtschaften und führt eine erfolgreiche Ehe.
Also ein Mann mit langem Atem, Zielen und Standfestigkeit. Aber eben untrainiert, was die Börse und ihr Verhalten angeht. Er war bis jetzt in einem anderen Finanzkoordinatensystem unterwegs. Alles war viel planbarer, das ändert sich jetzt.
Was tun?
- Weiter in ETFs investieren, denn der Anlagehorizont ist lang genug.
- Aber keine vierstelligen Sparraten, sondern vorsichtiges Vorantasten. Was helfen kann: Machen Sie doch mal eine Feuerübung mit Ihrem Geld.
- Das Depot muss einfach und überschaubar bleiben. Zwei ETFs, einer auf den MSCI World und einer auf den MSCI Emerging Markets reichen.
Wichtig: Nicht übermütig werden. Der nächste Kursrücksetzer kommt bestimmt. Es geht hier nicht darum, das maximale an Rendite herauszuholen, sondern um die Opportunitätskosten. Ein Beispiel:
R. könnte monatlich 1.000 Euro sparen, belässt es aber bei 300 Euro. Nach einem Jahr ist sein Depot 7% im Plus. Dann kommt ein Kursrückgang um 20%, den R. einfach aussitzt. Bei der hohen Sparrate hätte er das emotional nicht geschafft, sondern hätte verkauft.
- Theoretische Sparrate: 12 x 1.000 € = 12.000 €
- Reale Sparrate: 12 x 300 € = 3.600 €
- Entgangener Gewinn: 588 € (mit der 1.000er-Sparrate wäre R.s Vermögen um 840 € gewachsen, wegen der 300er-Sparrate waren es nur 252 €).
- Nicht entstandener Verlust durch Aussitzen: 2.568 € (das sind 20% von 12.840 €)
Das Problem: Kommt nach einem Jahr der Kursrückgang nicht, bejammert man die entgangenen Gewinne: "Wäre ich nur mal mutiger gewesen."
Das beste, was R. passieren kann, ist ein Kursrückgang den er ohne Verkaufen übersteht. Nur in der Krise wachsen wir.
Ein Wort zum Anlagehorizont
"Was tun bei einem Anlagehorizont von 10 bis 15 Jahren?"
Grundsätzlich stellt sich die Frage: Liegt der Horizont nicht eher bei 20 bis 30 Jahren. Nur weil es bis zur Rente 15 Jahre sind, bedeutet das doch nicht, dass das ETF-Depot diesen Zeithorizont hat.
Sie gehen in Rente, nicht ihr Depot. Das kann doch weiter arbeiten, bis Sie 80 sind.
Aber ich kann dann nichts mehr einzahlen.
Muss ja auch nicht sein. So ein ETF-Depot wächst aus sich selbst heraus. Das ist ja das Schöne.
Und im Übrigen: Was ist das für eine mythische Vorstellung vom Renterdasein: Ich werde 67 und - bäm - legt sich ein Schalter um: Alles ist vorbei. Ich kleide mich nur noch beige, trage Gesundheitsschuhe und mache Städtereisen.
Bis gestern noch Vollzeit gearbeitet, ab heute Rentenempfänger und vollkommen ohne Möglichkeiten noch Geld zu verdienen?
Das bringt mich zum letzten Absatz dieses Artikel:
Welche Alternativen hat R.?
Um noch einmal auf das
"… oder siehst Du andere Möglichkeiten?"
zurückzukommen. Es gibt zusätzliche Möglichkeiten.
Das Haus verkaufen
Waaas? Jetzt wo mir das Haus endlich gehört? Nie und nimmer! Was für eine idiotische Idee!
- Nun ja, aber wie ich hörte, sind die Kinder aus dem Haus. Wird denn der ganze Platz noch gebraucht?
- Was ist mit dem Lebensstil? Soll der in Zukunft halbnomadisch werden, so wie man das von vielen Senioren kennt? Wollen Sie wirklich den Einbrechern 20 ungestörte Wochen bieten?
- Wie sieht die Wertentwicklung in Ihrer Region aus? Ziehen man in Ihre Region oder verlässt man sie?
- Wer ein Haus hat, braucht Rücklagen. Die müssen aufs Tagesgeldkonto und dürfen nicht an die Börse.
- Auch wenn sie gut gepflegt werden: Häuser veralten. Vielleicht besser jetzt ein Haus samt Grundstück verkaufen, statt in 20 Jahren nur noch ein Grundstück mit einem Haus als Altlast.
- Jetzt verkaufen Sie aus einer Position der Stärke. Wenn erst einmal ein Ehepartner nicht mehr kann, reibt die Organisation der Pflege Sie auf. Für einen vernünftigen Hausverkauf bleibt da kaum noch Zeit.
- Wohin mit dem Geld nach dem Verkauf? Noch kann man es langsam in ein ETF-Depot einsickern lassen (die Risikotoleranz steigt meist mit der Erfahrung). Wer mit 70 oder gar mit 80 verkauft, kann das nicht mehr tun. Verrenten geht auch nicht, denn ab 70 nimmt keine Versicherung Ihr Geld an. Was bleibt, ist eine sechsstellige Summe auf dem Konto, weit jenseits der Einlagensicherung.
Zum Schlussß noch Mahatma Ghandi
"Wenn Du etwas 2 Jahre lang gemacht hast, betrachte es sorgfältig. Wenn Du etwas 5 Jahre lang gemacht hast, betrachte es misstrauisch. Wenn Du etwas 10 Jahre lang gemacht hast, mach es anders."
R. hat sein Haus mindestens 10 Jahre lang abgezahlt.
Ein Vorschlag zur Güte: Es muss ja nicht unbedingt ein Verkauf sein, vielleicht ist Vermieten auch eine Alternative.
Keine Alternative: Das Haus als "gesetzt" ansehen und jede kritische Frage als Ketzerei ansehen. Wenn nach einer gründlichen Betrachtung im Haus R. herauskommt: "Wir haben alles gründlich durchdacht und werden nichts ändern", dann ist das eine gute Entscheidung, denn dann wissen Herr und Frau R. worauf sie sich einlassen und wer wäre ich, ihnen davon abzuraten.
Nebenjob
Wenn die Kinder flügge werden, haben die Eltern freie Zeit. Warum nicht einen Teil dieser Zeit dafür nutzen, um ein nebenberufliches Fässchen aufzumachen.
Mit 50 hat man im Brotberuf meist den Endausbau der Karriere erreicht. Es geht ums Bewahren und weniger darum, noch eine Stufe auf der Leiter zu erklimmen. Man muss also nicht mehr jede Überstunde mitmachen.
Warum also nicht jetzt anfangen sich auf die Zeit in Beige vorzubereiten? Weiterhin gute Arbeit im Brotjob, aber zusätzlich eine nebenberufliche Tätigkeit anfangen, die gerne aus einem Hobby erwachsen kann. Das Ganze dann über die Jahre so einregeln, dass man nicht schlagartig den Aggregatzustand wechselt, sondern langsam in die neue Lebensphase hineinwächst.
Ein gut gewählter Nebenjob bringt nicht nur Geld, sondern auch Sozialprestige, man kommt unter Leute und muss sich mit so nervigen Dingen wie einer Steuererklärung herumschlagen.
Aber gerade dieses nervige Zeug hält einen jung.