Aus der Mail-Konversation mit Leser C.
Noch eine Frage: Wenn ich heute 40 bin, und in 25-30 Jahre mein Depot einkassieren will, wie mache das am besten? Mir fehlt komplett die "Endgame"-Strategie. Auf Blogs wie Ihrem hört man wenig davon. Vielleicht können Sie einen Artikel dazu schreiben - ich kenne viele die hier auch unsicher sind und deshalb gar kein Depot eröffnen.
Leser S., noch Student
Da ich bald meine erste Stelle antreten werde, denke ich über meine meine Altersvorsorge nach.
Ich habe einige Artikel gelesen in denen das Thema schon angerissen war, aber was genau mache ich eigentlich mit meinen MSCI-ETF-Anteilen in 30 Jahren? (Anmerkung von mir: S. hat noch keine, er erwägt gerade den Ankauf)
- Auf einen Schlag verkaufen und in Tagesgeld anlegen?
- Die Dividenden zur Rentenaufbesserung benutzen? Jeden Monat Anteile verkaufen je nachdem wie mein Lebensstil es verlangt? (Letzteres scheint mir risikoreich zu sein, da es im Falle eines Crashs meine Altersversorgung stark beeinträchtigen würde).
Zu guter Letzt (hoffentlich findest du das jetzt nicht zu viel) habe ich schon versucht herauszufinden wie es nach meinem Tod mit meinem Investment weiter geht. Wie funktioniert das mit dem Erbe? Welche Steuerabzüge werden da beispielsweise für Kinder oder Ehepartner gemacht?
Leser B. wünscht sich den Blick in die "Glaskugel"
Wir (Du und deine Leser) beschäftigen uns ja mit den Wegen hin zur finanziellen Freiheit.
Was noch nicht wirklich zur Sprache kam ist, wie den "ein Leben nach der Ansparphase" aussehen könnte.
- Wie groß sollte das Depot sein? (eventuell abhängig von den geschätzten kosten jedes einzelnen pro Jahr?)
- Wie könnte die Deinvestitionsphase aussehen, sodass mir mein Depot auch 20+x Jahre ausreicht.
- Wie sieht ein Weg aus, wenn der Black Swan eintrifft und mein Depot zum gewünschten Termin gerade 50% im Minus ist?
- Oder gar Krankheit dazwischen kommt?
Der Finanzwesir antwortet
Halten wir fest: Alle drei Leser sind unsicher. Diese Unsicherheit hält sie davon ab zu handeln. In der Behavioral Finance nennt man das "Angst vor Kontrollverlust".
Eine sehr sinnvolle Angst, die unsere Vorfahren sicher durch die Jahrtausende gebrach hat. Niemand springt ohne Not in ein dunkles Loch. Wir wollen wissen: Wie tief, wie sieht der Boden aus, lauern da Krokodile?
Diese Angst vor dem Kontrollverlust sitzt uns überall im Nacken.
- Architekten kennen Bauherren, die vor Baubeginn jedes Detail geklärt haben wollen (am 16.7. kommen die Fliesen um 8:23 Uhr).
- Chirurgen verheddern sich mit besorgten Eltern in den feinsten Verästlungen möglicher Nebenwirkungen, auch wenn nur ein Routineeingriff ansteht.
Schon Lenin wusste:
"Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser."
aber
"Was zuviel ist ist zuviel".
Das deutsche Sicherheitsbedürfnis würde man in anderen Teilen dieser Welt als "einbetoniert" bezeichnen.
Wie lässt sich das Problem lösen?
Falsche Fragestellung.
- Lösen? Gar nicht und
- Das muss so!
Das Problem prinzipiell unlösbar. Denn
"Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber leben muss man es vorwärts."
- Søren Aabye Kierkegaard, dänischer Philosoph
Ich bin jetzt 50, vor 30 Jahren war ich 20. Wenn ich jetzt die letzten 30 Jahre Revue passieren lasse, dann sind alle Schritte sinnvoll und klar. Ich kann Ihnen mein Leben als einen Perlenkette voller Erfolge präsentieren oder die Wahrheit sagen.
Das meiste ist schlicht Zufall. Natürlich ist das Glück mit dem Tüchtigen und wenn man zur rechten Zeit am rechten Ort ist und laut hier schreit, sollte man dann auch etwas vorzuweisen haben.
Aber erst einmal muss man zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Wie Nassim Taleb in seinem Buch "Narren des Zufalls" schreibt: Nicht wir, sondern der Zufall ist unseres Glückes Schmied.
Jeder Tag ist ein Aufbruch ins Ungewisse. Auch wenn unser Gehirn seine Heuristiken einsetzt, um uns vom Gegenteil zu überzeugen: Bloß weil wir den den Zebrastreifen gut kennen, bedeutet das nicht, das die Autos dort zuverlässiger halten.
Kommen wir zu Punkt zwei: Das muss so!
Stellen wir uns doch mal die Frage: Warum gibt es bei Tagesgeld und Staatsanleihen keine Zinsen oder sogar eine Negativrendite, während man an der Börse noch Prozente bekommt?
Sie tragen das Geld zur Bank und sagen: "Bitte sicher aufbewahren".
Die Bank murrt, nimmt’s, kann aber auch nichts richtiges damit anfangen. Denn Ihre Bedingung war ja: Es darf nicht weniger werden.
Also ab in den Tresor und ein paar Mausefallen aufgestellt, damit niemand die Scheine anknabbert.
So ist das halt bei der Lagerung von Rohstoffen. Es fallen Lagerkosten an. Geld, das nur rumliegt ist nichts weiter als ein Rohstoff.
An der Börse gibt Ihnen keiner eine Garantie, dafür aber Geld. An der Börse können Sie sich Ihren Kontrollverlust versilbern lassen.
Im Umkehrschluss: Kein Kontrollverlust, kein Geld. Deshalb muss das so.
Zwischenfazit
Deshalb schreibe ich auch nichts über dieses Thema. Es wäre
- entweder eine Lüge oder
- belangloses Geschwätz
Rechnen Sie doch einmal 20 beziehungsweise 30 Jahre zurück:
- 26.4.1986: Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Wir werden alle sterben.
- 1996: Die deutsche Telekom geht an die Börse. Zwar sind wir schon seit 1986 tot, aber reich werden wir trotzdem. Manfred Krug verspricht’s im Werbe-TV.
Was von dem, das damals prophezeit wurde ist eingetreten? Und viel wichtiger: Was hat sich vollkommen unprohezeit einfach so in unser Leben geschlichen?
Ein Zeithorizont ab heute von 20 Jahren bedeutet 2036, wer den 30-Jahres-Forecast will, landet im Jahr 2046.
Woher soll ein armer Blogger wissen, wie das Endspiel 2046 aussieht, wenn selbst die Fifa mit Ihren WM-Planungen erst im Jahr 2026 angekommen ist?
Je mehr Details ich kenne, umso genauer und konkreter die Ratschläge. Über die Zukunft weiß ich nichts, deshalb bleibt es bei den üblichen wachsweichen Formulierungen: Diversifizieren Sie, halten Sie die Kosten niedrig, lassen Sie sich nicht scheiden.
Halten Sie es mit Kierkegaard und fliegen Sie Ihr Leben auf Sicht. Anders geht es nicht.
Sie werden feststellen: Mit der Erfahrung kommt die Souveränität. Viele Punkte, die Sie jetzt als groß und wichtig erachten werden mit der Zeit nichtig und klein.
Kann man denn gar nichts tun?
Doch.
Die Unsicherheit in den Alltag integrieren. Wenn etwas Alltag ist, ist es ungefährlich, weil beherrschbar. "Harr, Harr", grinst da der Psychologe grimmig: "Nennt sich Kontrollillusion."
Der Psycho-Typ soll die Klappe halten. Wir fangen jetzt einfach an! Da wir schlau und listig sind, nutzen wir die Psychotaktik des Framings (ganz ohne Psycho geht’s eben doch nicht).
Wir sehen das Ganze nicht im Rahmen "Geldanlage", sondern im Rahmen "Finanzexperiment". Ein ganz anderer Kontext also.
Wie eröffne ich ein Depot? Keine Ahnung? Dann einfach mal ausprobieren und die Sache erforschen. Wie gesagt, es geht ja nicht um Geldanlage, sondern darum etwas Neues zu lernen.
Lebenslanges Lernen, geistig fit bleiben, die intellektuelle Herausforderung annehmen…
Wie, ich soll jetzt einfach mal so ein Depot eröffnen?
Ja! Ich finde, Sie sollten dieses Thema weniger ernst nehmen. Etwas "ernst nehmen" bedeutet in Deutschland endlose theoretische Diskussionen und Abwägungen à la Faust:
"Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor"
Aber
"Grau ist alle Theorie – entscheidend is auf’m Platz."
- Alfred Preißler
Anfangen, Depot eröffnen, mal schauen. Bei welchem Broker? Bei der Geldanlage eine superwichtige Frage. Hier: Egal, ist doch nur ein Experiment.
Was ist denn das maximal Schlimmste, das Ihnen passieren kann: Sie haben ein kostenfreies Depot an der Backe, dass sie jederzeit schließen können.
Die Sache kostet Sie ein bisschen Zeit.
Aber wenn Sie das Depot doch schon mal haben, könnten Sie sich doch auch einen ETF auf den MSCI World hineinlegen und mal schauen, was der so macht. Welchen? Egal. Für unser Experiment ist jeder ETF geeignet. Kaufen Sie einen oder zwei Anteile und schauen Sie, was passiert.
Bevor jetzt die ganzen Optimierer jaulend aus ihren Löchern geschossen kommen: Schon vergessen: Das hier ist keine Geldanlage, sondern ein Experiment. Also: Schleicht Euch!
Wie das bei frischgebackenen Vätern und Müttern so ist: In den ersten Tagen sind vier Depotchecks pro Stunde nicht zu viel. Auch die kleinsten Kursausschläge verdienen Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
Oder: Keine Kursausschläge! Wieso? Wird der ETF nicht mehr gehandelt? Ist er pleite, weg vom Fenster?
Nein, es wollte nur in der letzten Viertelstunde niemand handeln.
Ich verspreche Ihnen das: Das geht vorbei. Nach einer Woche wird Ihnen das zu viel. Gehen Sie dann auf einmal täglich herunter und wenn Sie das dann nervt: Einmal pro Monat reicht auch.
Irgendwann bekommen Sie Post vom Broker: Dividendenzeit - 0,42 Euro Ausschüttung wurden Ihrem Konto gutgeschrieben.
Auch wenn Ihr Gehalt tausend mal höher ist als die Ausschüttung, so ist die Ausschüttung doch viel bedeutender.
Warum?
Weil Sie jetzt zum ersten Mal merken: Hoppla, ich habe nichts getan und bekomme trotzdem Geld. Klar, es ist nur wenig, aber ich habe ja auch nur wenig investiert.
Aber, aber - Salz in Ihre Wunden: Sie haben 70 Euro für zwei Anteile MSCI World bezahlt. Die sind aber aktuell nur 65 Euro wert. Wie kann man sich da über 0,42 Euro an Ausschüttungen freuen?
Tja, Freud und Leid des Anlegerlebens. Soviel Spannung für unter hundert Euro. Wo bekommt man das heutzutage noch?
Niemand will seine Altersvorsorge versemmeln. Deshalb muss da alles perfekt sein. Aber es heißt nicht umsonst:
"Das erste Haus baut man für seinen Feind. Das zweite für seinen Freund und erst das dritte für sich."
Ich kann Ihnen eines garantieren: Egal, wie viel Planung Sie in Ihr Depot stecken, wenn Sie nach fünf Jahren noch einmal auf Start zurückkehren dürften: Sie würden Ihr Depot ganz anders strukturieren. Deshalb plädiere ich für das Startup-Motto:
"Fail fast, fail often"
Machen Sie schnell und mit kleinem Geld Ihre Erfahrungen.
Fazit
Wenn sich das Ganze dann so in Ihr Leben geschlichen hat, werden Sie feststellen: Ich kann das ja. Die Summen werden größer und auf einmal ist sie da, die Altersvorsorge. Hat sich ganz von allein ergeben.
Sich, wie Leser S. den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man nicht vorhandene ETFs an nicht gezeugte Kinder vererbt, ist definitiv zu viel Planung.
"Sorge Dich nicht, lebe!"
- Dale Carnegie
Mehr als diese Allgemeinplätze habe ich nicht für Sie.
Wenn Sie dagegen wissen wollen, wie das Endspiel heute aussieht, habe ich etwas für Sie: Lassen Sie sich vom Privatier coachen, der kann’s.
Besuchen Sie ihn auf seinem Blog oder schauen Sie sich sein Buch "Gedanken eines Privatiers: Freiwilliger Ruhestand mit 56 Jahren"* an.
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