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Leserfrage: ETF versus Versorgungswerk

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Leser A. schreibt

Ich bin 36 Jahre alt, verheiratet und habe zweijährige Zwillinge. Von Beruf bin ich selbstständiger Rechtsanwalt und als solcher Mitglied in einem berufsständischen Versorgungswerk. Meine Frau arbeitet im Marketing bei einem internationalen Konzern, derzeit auf einer ¾ Stelle und ist für das Alter durch gesetzliche und betriebliche Rentenversicherung sowie Zusatzprodukte gut abgesichert.

Die Frage, die ich mir stelle ist: "Schneidet mein Versorgungswerk besser ab, als mein Portfolio (MSCI World und MSCI EM 70/30) mit dem Verhältnis 70% Aktien, 30% Anleihen/Festgeld?"

Der Hintergrund ist, dass ich mich demnächst dauerhaft entscheiden muss in welcher prozentualen Höhe ich zukünftig Beiträge bezahlen will (möglich sind zwischen 5/10 bis 10/10 des jeweiligen Satzes zur gesetzlichen Rentenversicherung, sowie einmal jährlich einen optionalen Sonderbeitrag von bis zu weiteren 50% auf den Jahresbeitrag).
Bisher habe ich 10/10 eingezahlt, was einen monatlichen Beitrag von derzeit 1.187,45 € ausmacht. Die Alternative wäre eine Vergrößerung der monatlichen Sparrate auf mein obiges Depot um die Differenz zum bisherigen monatlichen Beitrag. Bei einer Reduzierung von 10/10 auf 5/10 ergibt sich eine Differenz von 593,73 €.

Hierbei sind die Steuervorteile der Rentenbeitragszahlungen nicht berücksichtigt. Beispielsweise 2017 bekommt man ja 84% der Vorsorgeaufwendungen vom zu versteuernden Einkommen abgezogen.
In meinem Fall wären das also 11.969,50 € (12 x 1187,45 x 0,84). Das bedeutet bei einem durchschnittlichen Steuersatz von ca. 32 % eine jährlich um 3.830 € niedrigere Steuerlast. Bei 5/10 Beitrag ergibt sich eine um ca. 1.915 € niedrigere Steuerlast.
Differenz also ebenfalls 1.915 € jährlich, sind rund 160 € monatlich. Faktisch erhöht sich meine Sparrate also bei 5/10 im Jahr 2017 nur um rund 433,00 €, da ich den Differenzbetrag ja dem Fiskus in den Rachen werfen darf. Da die prozentuale Anrechnung der Vorsorgeaufwendungen in den kommenden Jahren jeweils um 2% steigt, bis 100% erreicht sind, gehe ich im Mittel bis zum Renteneintrittsalter von einer um nur 400,00 € höheren Sparrate aus.

Zahle ich weiter fleißig 10/10 kann ich nach jetzigem Stand mit einer Rente von ca. 3.800 € mit 67 Jahren, also im Jahr 2048 rechnen.
Bei 5/10 sind es nach der Rentensimulation ca. 2.190 €. Hierauf darf ich natürlich wieder Steuern zahlen. Um diese zu schätzen muss man natürlich in die Kristallkugel sehen, da keiner weiß wie im Jahr 2048 der allgemeine und mein persönlicher Steuersatz aussieht.
Bei dem derzeitigen allgemeinen Steuersatz und unter Berücksichtigung meiner persönlichen Umstände komme ich mit Hilfe des Steuerrechners des BMF unter Berücksichtigung abzugsfähiger Positionen auf ca. 666,67 € Steuern (8.000 € jährlich) bei einer Rente von 3.800 € pro Monat und auf ca. 208,33 € (2.500 € jährlich) bei einer Rente von 2190 € pro Monat. Bleiben von meiner schönen Rente also 3.133,33 € bzw. 1.981,67 € pro Monat übrig.

Für die langfristige Entwicklung des o.g. Portfolios (70% Risikobehaftet/30% Risikoarm) habe ich mit 5 % Nettorendite p.a. gerechnet.

Ist das realistisch? Habe nur die Zahl 7-8 % Rendite für den MSCI World im historischen Schnitt gefunden, aber nichts zur historischen Durchschnittsrendite meines obigen Gesamtportfolios (risikoarm und risikoreich zusammen).

Falls ja, komme ich bei einer monatlichen Sparrate von 400,00 € und 31 Jahren Ansparphase auf rund 278.000 € bei Renteneintritt, wobei die Abgeltungssteuer bereits berücksichtigt ist.

Entnehme ich nun den Differenzbetrag zwischen den beiden errechneten Renten von 1.151,66 € (3.133,33 € - 1.981,67 €) monatlich ab Renteneintritt und gehe davon aus, dass sich die Restbeträge jeweils mit 3 % verzinsen (im Alter würde man ja auf eine konservativere Anlage wechseln), könnte ich ca. 30,75 Jahre entnehmen bis das Geld aufgebraucht ist. Ich wäre dann also 97 Jahre und 9 Monate alt und hätte statistisch gesehen schon lange ins Gras gebissen.

Der Finanzwesir antwortet

Diese Art von Anfragen bekomme ich immer wieder. Sehr viel Text, sehr langer Zeithorizont und die Zahlen centgenau. Geschrieben von klugen Menschen, die sich Gedanken machen und gerne die eine, die richtige Entscheidung treffen möchten.
Ein ehrbares Ziel nur leider vollkommen unrealistisch.
A.s Prognosen sind eher mit den Modellen der Klimaforscher zu vergleichen. Gesteht man Bangladesch im Modell pro Jahr 100 Milliliter mehr Regen pro Quadratmeter zu wird aus der Klimaerwärmung eine Abkühlung.
Will sagen: Dreh ein kleines bisschen an den Eingangsparametern und schon verändert sich das Ergebnis drastisch.
Der Wissenschaftler nennt es Pfadabhängigkeit. Umgangssprachlich heißt es: "Damals dachte ich, es wäre eine gute Idee gewesen."

Pfadabhängigkeit?

Das Leben ist ein Pfad, der sich durch die Jahre schlängelt und immer wieder an Kreuzungen führt. Spannend sind die Kreuzungen. Kreuzungen sind instabil. Schon kleine Störungen haben einen großen Effekt. Siehe diesen Artikel. Ich hätte A. auch schreiben können: "Sorry Leserbrief-Overload und weiterhin viel Erfolg". Nun ist er aber geschrieben dieser Artikel und die Kommentare kommen noch dazu. A. liest das hoffentlich alles und schlägt daraufhin womöglich einen ganz anderen Weg ein. Einen Weg, vom dessen Existenz er er beim Schreiben seiner Mail an mich womöglich noch gar nichts wusste.
Das meint die Pfadabhängigkeit mit Kreuzungsinstabilität. Kleiner Schubs, große Wirkung. Wenn die Entscheidung aber einmal gefallen ist erreicht A. erst einmal wieder eine stabile Phase. Das Commitment schlägt zu. Jetzt kann man ihn mit dem Holzhammer bearbeiten, er hält Kurs. Selbst wenn er klammheimlich zugeben muss: Ein anderer Pfad wäre überlegen gewesen.
Pfadabhängige Prozesse verhalten sich an den Kreuzungspunkten nicht deterministisch, sondern chaotisch. Eine kleine Störung führt über positive Rückkopplung zu einem ganz anderen Ausgang. Da andererseits der Übergang in eine stabile Phase unabhängig von der Qualität der getroffenen Entscheidung stattfindet, sind pfadabhängige Prozesse nicht selbstkorrigierend, sondern im Gegenteil dazu prädestiniert, Fehler zu verfestigen.

A.s Eingangsparameter

A: Meine Frau ist für das Alter durch gesetzliche und betriebliche Rentenversicherung sowie Zusatzprodukte gut abgesichert.
Finanzwesir: Ist sie nicht. Der internationale Konzern ist längst pleite. Enron reloaded - in den Ruin getrieben durch eine größenwahnsinnige Führung. Die gesetzlichen Rentenkassen sind leer. Das Geld ging drauf für meine Generation.

A: Schneidet mein Versorgungswerk besser ab, als mein Portfolio (MSCI World und MSCI EM 70/30) mit dem Verhältnis 70% Aktien, 30% Anleihen/Festgeld?
Finanzwesir: Wie sieht es denn bis jetzt aus?

A: Für die langfristige Entwicklung des o.g. Portfolios (70% Risikobehaftet/30% Risikoarm) habe ich mit 5 % Nettorendite p.a. gerechnet.
Finanzwesir: Das bedeutet für den RK1-Anteil gibt es 0,35% netto. Wobei die Frage ist: Was ist netto? Nach Gebühren und Steuern? Oder nur nach Gebühren? Warum sollen die Zinsen für den risikoarmen Anteil im Jahr 2048 nur bei 0,35% liegen?

A: … und 31 Jahren Ansparphase…
Finanzwesir: Warum 31 Jahre? Statista sagt: Die durchschnittliche Ehedauer bis zur Scheidung in Deutschland betrug 2015 knapp 15 Jahre. A will es doppelt so lange aushalten ohne sich seine Sparrate von einer Scheidung verwüsten zu lassen.

A:: Dass sich die Restbeträge jeweils mit 3 % verzinsen (im Alter würde man ja auf eine konservativere Anlage wechseln)
Finanzwesir: Was soll das für eine konservative Anlage sein? Ich kenne aktuell keine. 3% bedeutet: Da sind noch Aktien im Spiel. A. rechnet bei der 5% Nettorendite oben mit einem RK1-Zins von 0,35%. Wie passt das zu den 3%, die er pünktlich zur Verrentung konservativ erzielen möchte? Markttiming, ick hör dir trapsen…

A: Bleiben von meiner schönen Rente also 3.133,33 € bzw. 1.981,67 € pro Monat übrig.
Finanzwesir: Eine centgenaue Prognose für das Jahr 2048. So mutig sind noch nicht mal die Börsenpropheten.

A: Eine monatlichen Sparrate von 400,00 €.
Finanzwesir: Warum nur 400 €? Ein Rechtsanwalt sollte sich doch auch 1.500 € leisten können. Läuft die Praxis so schlecht? Oder sinkt die Sparrate in 4 Jahren auf Null, weil A. und seine Frau dann bauen?

A: … im Jahr 2048 in Rente
Finanzwesir: Das bedeutet A. geht von Rente mit 67 aus. Warum eigentlich? 67 ist doch nur eine willkürliche Zahl. Für das Frugalisten-Camp ist die 40 das neue 67. Ganz Hardcorige wollen sogar schon mit 35 da sein, wo A. mit 67 sein will.
Aber wir Geburtenstarken sind in 30 Jahren um die 80. Wenn wir uns gut halten, können wir noch ‘ne Menge schicke Kreuzfahrten machen und A. muss vielleicht bis 71 arbeiten.

A. rechnet immer in Euro. Wieso eigentlich?
Finanzwesir: Die deutsche Währungsgeschichte seit der Reichsgründung

Währung Zeitraum Lebensdauer
Mark 1871 – 1923 52 Jahre
Rentenmark 1923 – 1924 1 Jahr
Reichsmark 1924 – 1948 24 Jahre
Alliierte Militärmark 1944 – 1948 4 Jahre
Deutsche Mark 1948 – 2001 53 Jahre
Währung der DDR 1948 – 1990 42 Jahre
Euro seit 1999/2002 49/46 Jahre bis 2048

Wenn ich mir das so ansehe würde ich sagen: 2048 ist mal wieder Zeit für eine neue Währung.

Zwischenfazit

Ich kann jede Annahme mit der A. uns Eck kommt problemlos zerlöchern. Bei einem Zeithorizont von 31 Jahren auch keine Kunst. Da fächern sich die Möglichkeiten in die Unendlichkeit auf.

Was tun?

Verzweiflung: Aber man muss doch von irgendetwas ausgehen!
Nö, muss man nicht.
Es kann sein, dass das ETF-Depot die nächsten 29 Jahre viel besser läuft und im Jahr 2046 kommt die steuerliche Privilegierung des Versorgungswerks. Ich hatte mal einen Leserbrief eines Mannes aus den neuen Bundesländern. Der stand zu DDR-Zeiten vor folgendem Problem: Privat vorsorgen oder voll auf die staatliche Vorsorge setzen.
Er hat seine Hausaufgaben gemacht, gerechnet und selbst in der DDR kam raus: Besser mal selbst was machen. Hat er gemacht und dafür die staatliche Vorsorge heruntergefahren. Was er nicht auf dem Radar hatte: Perestroika und aus Raider wurde Twix.
Für seine Alu-Chips hat er nicht viel bekommen. Die staatliche Vorsorge wurde - politisch gewünscht - 1:1 umgerechnet. Traumrenditen! Hätte er zu DDR-Zeiten mal das Falsche gemacht.
Warum kam es dazu? Die Masse hat natürlich nicht gerechnet, sondern stumpf in die staatliche Vorsorge eingezahlt.
Learning: Es ist egal, was A. berechnet. Wenn er zur Mehrheit gehört, wird sein Plan aufgehen. Sonst nicht. Politische Probleme löst man nicht mit Excel.

Was rät der Finanzwesir?

  1. Mal den Trott hinterfragen. Wieso Rente mit 67?
  2. Nicht die Zeit mit Sekundärfragen "ETF vs. Versorgungswerk" verschwenden sondern fragen: Wo kommt das Geld denn her, das da eingezahlt werden soll? Aus seiner Kanzlei und ihrem Marketing-Job! Was passiert, wenn A.s Frau gefeuert wird? Wie sicher ist der Job wirklich. Wenn die Zahlen nicht stimmen, ist Marketing gerne mal die Truppe, die das Geld nicht verdient, sondern mit vollen Händen zum Fenster rauswirft. Dann muss ausgedünnt werden. Wie ist die Kanzlei positioniert? Feld-Wald- und Wiesen-Anwalt (alles von Scheidung bis Müllgebührenzoff) oder rasiermesserscharf in der Nische unterwegs (ihr Anwalt für Immo-Streß im Mehrfamilienhaus)?
  3. Ziel muss es sein, dass die Frage "ETF vs. Versorgungswerk" vollkommen irrelevant wird. Ich finde dieses Ziel kann ein Paar Mitte 30 durchaus noch erreichen.
  4. Kein lineares Fortschreiben irgendwelcher Parameter über einen Zeitraum von 3 Jahren hinaus.
  5. Ab 10 Zukunftsjahren müssen Zahlen mindestens auf drei Nullen gerundet werden. Ab 2027 ist die 1.000 €-Prognose zulässig, 1.100 € sind scheingenau und 1.111,11 € Häresie. Ich bereit für die 1.500 eine Ausnahme zu machen.
  6. Auf 10 Jahre kann man sein Leben auf Sicht fliegen. Danach ist nur undurchdringlicher Nebel. Nehmen wir A. im Jahr 2027: Die Twins sind 12, in der weiterführenden Schule und bereiten sich auf die Pubertätsanarchie vor. Er ist 46 und sieht die 50 langsam näher kommen. Was soll dann sein?

Dieses Szenario: A.s Frau arbeitet schon länger Vollzeit und ist jetzt "Head of Brand & Communications". A. beschäftigt mittlerweile 5 weitere Anwälte und kümmert sich nur um die wirklich wichtigen Fälle mit einem Streitwert ab 500.000 €.
Oder jenes: A. und seine Frau haben entschieden: Genug ist genug. Sie arbeitet trotz Beförderung Halbzeit, A. ist ein hochspezialisierter Einzelkämpfer. Dank seiner exorbitanten Stundenlöhne heißt es: Freitag, Samstag und Sonntag gehört Papa mir.

Das kann und muss man heute entscheiden. Alles andere wird sich finden.
Wir hatten auch einmal so ein Erlebnis: Die Deutsche Bank hat unser Leben geplant: "In 3 Jahren werden Sie diese Einnahmen erzielen, in 5 jene und in 10 Jahren werden enorm viele Euros ihr Leben bereichern…" Überreicht in einem wertigen Kunstlederordner mit Prägedruck.
Als das Leben nach 8 Jahren diesen Ordner immer noch konsequent ignoriert hat, habe ich ihn samt Inhalt entsorgt.

Diese Zahlenkolonnen vermitteln eine Scheinsicherheit. Eigentlich kann A. nur drei Dinge tun

  1. Ausgaben im Griff haben
  2. Zahl und Sprudeligkeit der Einkommensquellen erhöhen, getreu dem Münchner Motto: "A bisserl was geht immer"
  3. Nicht fragil werden. Keine Schulden, immer genug Cash, immer mehrere Eisen im Feuer, Abhängigkeiten vermeiden wie der Teufel das Weihwasser.

Wer behauptet, er könne die Frage

"Schneidet mein Versorgungswerk besser ab, als mein Portfolio (MSCI World und MSCI EM 70/30) mit dem Verhältnis 70% Aktien, 30% Anleihen/Festgeld?"

für einen Zeithorizont von 31 Jahren beantworten, lügt.

Hilft halt nichts. A. muss eine Entscheidung ohne fundierte Datenbasis fällen. Aber ich bin mir sicher - er schafft das. Er hat bewiesen, dass er weit schwierigere Entscheidungen unter Unsicherheit fällen kann.
31 Jahre, das ist ein Langstreckenflug. Gehen wir mal auf die Reiseflughöhe eines A380 um Perspektive zu gewinnen. Was stellen wir fest: A. hat sich bereits für eine Copilotin entschieden. Solange im Cockpit Einigkeit über den Kurs herrscht, ist es relativ egal, ob in der Kabine beef (ETF) or chicken (Versorgungswerk) die Kalorien liefern.


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