
Ergodizität ist das heißeste Ding überhaupt. Sagt Nassim Nicholas Taleb.
"Ergodicity is the most important property to understand in probability, in life, in anything."
Noch nie von diesem ultimativen Problemlöser gehört?
Der Blick ins Fremdwörterbuch hilft nicht weiter und die Definition auf Wikipedia ist gruselig und vollkommen unverständlich. Lassen Sie uns lieber ins Casino gehen.
Überleben im Casino
Wer reich werden will, muss erst mal überleben. Nassim Taleb, der Autor des Buchs "Der Schwarze Schwan" hat dazu folgendes Gedankenexperiment präsentiert:
Wir schicken hundert Menschen mit je 1.000 Euro ins Casino. Sie setzen auf eine ausgefeilte Strategie, die durchschnittlich 50 % Gewinn abwirft. Allerdings verspielt einer der hundert pro Abend alles und ist raus.
Eine klassische Kosten-Nutzen-Rechnung ergibt: 99prozentige Chance auf einen Gewinn und einen erwarteten Durchschnittsgewinn von 50 % des eingesetzten Kapitals.
Kann man nicht meckern. Auf ins Casino.
Nun gehen Sie also ins Casino. Heute, morgen, übermorgen, 100 Tage lang.
Am ersten Tag vermehren Sie 1.000 Euro zu 1.500 Euro, nach fünf Tagen tauschen Sie beim Hinausgehen Chips im Wert von 7.594 Euro um. An Tag 27 räumt das Casino für Sie einige Regale im begehbaren Tresor frei. Chips im Wert von knapp 57 Millionen Euro sind eine Menge Plastik. 57 Millionen, das ist eine Menge Geld. Selbst für ein Casino. Und Sie wundern sich, warum das Management so ruhig bleibt.
Tag 28 ist der Ein-Prozent-Tag: Die 57 Millionen gehören wieder dem Casino.
Damit ist das Spiel zu Ende. Es gibt keinen Tag 29.
Und weil das Management den Unterschied zwischen ergodisch und nicht ergodisch kennt, ist es so entspannt geblieben. Wenn Sie nur lang genug spielen, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Sie verlieren bei einhundert Prozent. Die klassische Kosten-Nutzen-Analyse sagt: "Das ist ein gutes Geschäft"; aber in Wirklichkeit spielen Sie russisches Roulette.
Lassen Sie uns festhalten:
Die Gewinnwahrscheinlichkeit, die für ein Kollektiv gilt, lässt sich nicht auf eine einzelne Person übertragen.
- Das erste Beispiel nennt sich Ensebleszenario. Wie verhält sich eine Gruppe von Menschen?
- Das zweite Beispiel ist ein Zeitreihe. Was passiert mit einer Person im Verlauf der Zeit?
Das Ensemble-Szenario
Das Zeitreihen-Szenario
Unseren Vorfahren kannten dieses Szenario. Deshalb gibt es Sprichwörter wie "Der Krug geht solange zum Brunnen bis er bricht."
Wer beim Roulette auf eine Farbe setzt, hat eine Gewinnchance von rund 49 %. Wie hoch ist die Chance n-mal richtig zu liegen?
Der Rien-ne-va-plus-Moment kommt in Runde 14.
Ergodisch versus nicht ergodisch
Würfeln ist ein ergodisches System. Die mittlere Augenzahl von 1.000 Würfen?
- Würfeln Sie halt tausendmal, bis sie einen Würfelarm haben.
- Holen Sie sich Verstärkung. Lassen Sie tausend Menschen aus dem Viertel je einmal würfeln.
In beiden Fällen liegt der Erwartungswert bei 3,5.
Mit dem Erwartungswert berechnen Sie, welchen Wert eine Zufallsvariable bei einer großen Anzahl an Versuchen annehmen sollte.
Der Erwartungswert muss kein mögliches Ergebnis sein. Kein Würfel hat dreieinhalb Punkte, trotzdem liegt der Erwartungswert bei 3,5.
Sollten die einzelnen Würfe aber Konsequenzen haben - wer ‘ne Eins würfelt, fliegt raus - dann ist es aus mit der Ergodizität.
Nicht ergodisch bedeutet: Sie als Individuum bekommen nicht den Gruppendurchschnitt.
Das Blöde: Im echten Leben hat eigentlich alles Konzequenzen. Und deshalb sagt Herr Taleb: "Ergodizität ist das Wichtigste überhaupt."
Für Sie als Anleger bedeutet das: Diese ominöse Marktrendite von der man jetzt so viel hört, die kriegen sie nicht.
Mit einer Million Euro in Rente. Jedes Jahr werden 65.000 € entnommen. Die Rendite: Konstant bei 7 %. Alles soweit supi; aber ein Crashjahr mit 25 % Verlust gibt es.
- Szenario 1: Der Crash kommt im dreissigsten Rentenjahr.
- Szenario 2: Der Crash zur Halbzeit. Nach 15 Jahren 25 % Verlust.
- Szenario 3: Der Sofort-Crash. Kaum in Rente sind 25 % weg.
Die elende Pfadabhängigkeit ruiniert den Szenario-3-Renter. Nach 21 Jahren ist er pleite.
Scheiß Ergodizität!
Altersvorsorge mit langem Atem. Beide Sparer kaufen 30 Jahre lang monatlich für 500 Euro ETFs.
- Szenario 1: In den ersten 15 Jahren gibt es durchschnittlich 5 %, dann folgen 15 Jahre mit 10 %.
- Szenario 2: Genau umgekehrt, erst 10 %, dann 5 %.
Das nicht ergodische Delta: 250.000 Euro oder das 42fache der Jahressparrate. So kann’s gehen.
Und dann rechnet ihnen einer auf den Cent genau vor, was Ihr Depot in 30 Jahren wert ist.
Der Finanzwesir sagt nur: "Versuch’ nicht arm zu sterben, das ist Herausforderung genug."
Nicht ergodisch: Hier kommt die Pfadabhängigkeit ins Spiel. Es ist entscheidend, wann etwas passiert.
MSCI World: Renditen im Laufe der Jahrzehnte
8,8 % pro Jahr - das ist die durchschnittliche jährliche Rendite des MSCI World zwischen 1969 und 2019. Der Ergodiker rechnet fröhlich mit 8,8 % und ist sich seiner Altersvorsorge sicher. Der Nichtergodiker denkt sich: "50 Jahre sind ‘ne lange Zeit. Die teile ich mal in Dekaden auf." Und siehe da:
Dekade | durchschnittliche Rendite pro Jahr |
---|---|
1969 - 1979 | 5,20% |
1979 - 1989 | 19,20% |
1989 - 1999 | 10,70% |
1999 -2009 | 0,40% |
2009 - 2019 | 9,50% |
Eine Dekade lang 0,4% pro Jahr? Wie ich schon sagte: Nicht arm sterben ist Herausforderung genug.
Zwischenfazit
Wenn Sie nicht zum Geschlecht derer von Kohlen und Reibach gehören, die in der 17 Generation ihre Latifundien bewirtschaftet, werden Sie dieses Ergo-Dingsbums nicht los.
Nur wer - wie die heilige römisch-katholische Kirche - unendlich tiefe Taschen und unendlich viel Zeit hat, ist nicht betroffen. Alle anderer erweitern besser Ihren Fremdwortschatz.
Letztlich ist fast jedes von Menschen bevölkerte System nicht ergodisch. Wer nicht ergodische Systeme als ergodisch betrachtet, riskiert den Bankrott. Alle meine ETF-Artikel tun so, als wären Finanzen ergodisch. Was soll ich auch anderes tun. Für jeden Leser eine eigene Renditekurve zeichnen? Also mache ich das Ganze ergodisch und versuche wenigstens die Nachkommastellen wegzulassen, damit es nicht vollkommen lächerlich wird.
Wenn Sie nicht ergodisch unterwegs sind, dann gilt Murphy: Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.
Deshalb sind Sätze wie "Wer 1999 Amazon-Aktien gekauft hat, ist nun schweinereich" vollkommener Blödsinn.
Wer hat denn 1999 Dotcom-Aktien gekauft? Spekulanten und Leute, die in diesem Bereich gearbeitet haben. 1999 gab es keinen Unterschied zwischen Amazon und Pets.com (größter Flop der Dotcom-Zeit). Das waren alles kleine Buden, die große Versprechungen gemacht haben und im Crash abgestürzt sind.
Die Spekulanten haben sich schnellstmöglich von dem Schrott getrennt und die Tech-Leute - die es vielleicht besser wussten - wurden arbeitslos und mussten verkaufen, um die Miete zu zahlen.
Menno, ich will aber meine Altersvorsorge ent-ergodischen
Das ist hier der Finanzwesir-Blog. Das bedeutet: Mit diesem Zwischenfazit werden wir uns nicht zufrieden geben. Also: Wie werde ich die Ergodizität los?
Der Mindset-Move
Die alten Finanzrecken haben alle ein Sprüchlein auf Lager, dass in der einen oder anderen Art ausdrückt: "Überleben ist die Basis eines jeden Erfolgs."
Oder: Liquidität vor Rendite.
Nassim Taleb
"Never cross a river if it is on average four feet deep.
I effectively organized all my life around the point that sequence matters and the presence of ruin does not allow cost-benefit analyses"
Was will uns der Meister damit sagen?
- Mit den Durchschnitten ist das so eine Sache. Ich ein Hähnchen, Sie ein Brötchen: im Durchschnitt haben wir beide ein halbes Brötchen und ein halbes Hähnchen.
- Die Reihenfolge ist wichtig.
- Solange der Ruin droht, sind Kosten-Nutzen-Rechnungen (ich will aber den Umsonst-Sparplan, was ist der billigste ETF?) deplatziert.
Welche Strategie hilft?
Wir brauchen also eine Strategie, die uns zuallererst überleben lässt. Überleben bedeutet:
- Mein Portfolio liefert mir die Liquidität, die ich brauche.
- Ich kann mir die Volatilität meines Depots emotional leisten.
Hier hilft die Diversifikation. Jede einzelne Anlageklasse ist nicht ergodisch, aber die Kombi ist - wenn die Anlageklassen unkorreliert sind - erstaunlich ergodisch. Diese zwei Strategien können helfen
- Die Hantel
- Das Kelly-Kriterium
Die Hantel
Auf der einen Seite extrem risikoavers und auf der anderen Seite sehr riskant unterwegs. Und nichts dazwischen. Im Berufsleben ist das der Buchhalter im Konzern, aber mit Karriereambitionen als Sänger.
Es geht darum sich - oder sein Depot - in eine Gruppe von Dingen aufzuspalten, die unabhängig von einander versagen. Das Versagen eines Assets reißt die anderen Assets nicht mit in die Tiefe. So gewinnen Sie Ergodizität und werden robust oder sogar anti-fragil.
Ein typisches Hantel-Portfolio: AAA-Anleihen (sehr sicher) plus Aktien (sehr unsicher).
In den letzten 30 Jahren hat das gut funktioniert.
Aber als gute Ergodiker schauen wir mehr als 30 Jahre zurück und stellen fest: Eigentlich marschieren Anleihen und Aktien fast immer gemeinsam. Nur in 11 Prozent aller Fälle sind Aktien und Anleihen stark antikorreliert. 11 Prozent von 130 Jahren - das sind mal gerade gut 14 Jahre.
30 Jahre, das ist ja nicht mal ein halbes Leben. Vielleicht ein Drittel. Das bedeutet: Anleihen plus Aktien sind keine Hantel. Jedenfalls nicht, wenn es um einen Zeitraum von 80 oder 90 Jahren geht.
Hanteliger ist folgendes: 80 % in Cash oder Immobilien plus 20 % in Angel Investments oder Sie gründen gleich eine eigene Firma.
Wichtig ist nicht die durchschnittliche Korrelation, sondern die Korrelation in der Krise.
Flugzeugtüren sind ja auch nicht für das normale Boarding ausgelegt, sondern für den ungewöhnlichen Fall, dass Roland Emmerich an Bord ist und der Kabinendruck sinkt….
Krisen sind Herdentiere. Da wo sich eine häuslich niedergelassen hat (DAX fällt um 20 %), fühlen sich auch eine andere wohl (Herr Müller, sie wurden für den Sozialplan ausgewählt. Ihr letzter Arbeitstag ist übermorgen) und dann kommt der Doc noch mit der Krebsdiagnose ums Eck…
Dann ist es schön, wenn man wenigstens keine finanziellen Sorgen hat. Darauf müssen Sie Ihr Depot trainieren.
"Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert und dann wieder gibt es Wochen in denen Jahrzehnte passierten."
Angeblich nicht von Lenin
aber trotzdem gut. Sorgen Sie dafür, dass Ihr Depot in diesen hektischen Wochen ergodisch ist. Der Rest wird sich finden.
Die Kelly-Formel
Eine Wettstrategie, die davon ausgeht, dass man
- immer nur einen Teil seiner Jetons platziert und
- das Risiko erhöht, wenn man gewinnt und das Risiko verringert, wenn man verliert.
Punkt zwei geht vollkommen gegen den Instinkt. Die Experimente von Daniel Kahneman und Amos Tversky, den Vätern der Verhaltensökonomie, zeigen: Sobald wir ins Hintertreffen geraten, wollen wir die Verlust wieder aufholen und laden uns immer mehr Risiko auf. Wenn wir dagegen gewinnen, werden wir vorsichtig: "An Gewinnmitnahmen ist noch keiner gestorben."
Hätte Herr A. vom obigen Beispiel das Kelly-Kriterium angewendet, wäre er nicht am 28. Tag pleite gegangen. Er hätte immer nur einen Teil der Gewinne gesetzt und wäre mit steigenden Verlusten immer vorsichtiger geworden.
Die Kelly-Formel geht von nicht ergodischen Märkten aus verhindert so den Ruin des Spielers.
Die einfachste Version der Kelly-Formel:
Chance/Gewinnquote = Positionsgröße
Beispiel: Münzwurf
- Einsatz: 1 Euro
- Kopf: Verdopplung des Einsatzes auf 2 Euro
- Zahl: Verlust des Einsatzes
Die Quote ist 2:1 (Mit einem Euro Einsatz zwei Euro gewinnen), die Chance ist 50 %.
Damit berechnet sich die Positionsgröße zu 25 % (50 % / 2) Ihres Kapitals.
Hier ein Kelly-Kalkulator für alle, die das einmal selbst ausprobieren möchten.
Fazit
- Es gibt Dinge, die auf den ersten Blick lukrativ aussehen, langfristig aber mit Sicherheit in den Ruin führen. Im Russisch-Roulette-Fall sind Kosten-Nutzen-Rechnungen sinnlos.
- Es gibt Dinge, bei denen man die Ensemblewahrscheinlichkeit erreichen kann, wenn man denn genug Wiederholungen zusammenbringt.
Mit anderen Worten: Der Zeitrahmen spielt eine große Rolle.
Kennen wir: Börsenkrise mit 55 ist etwas anders als Börsenkrise mit 35.
Fragil und anti-fragil sind letztlich Synonyme für nicht ergodisch und ergodisch.
- Fragil = nicht ergodisch = pfadabhängig = Dinge haben Konsequenzen. Wenn Sie gegen die Mauer des Ruins krachen, fliegen Sie aus dem Spiel.
- Anti-fragil = ergodisch = pfadunabhängig = Dinge haben keine Konsequenzen. Egal was passiert: Sie bekommen den Gruppendurchschnitt.
Ok, wie finde ich den nun heraus, ob ich russisches Roulette spiele oder nicht?
Stressen Sie die zu prüfende Sache mit Volatilität. Wie reagiert sie?
Ein Beispiel:
- Tausend Autos mehr in der Stadt => Sie brauchen zehn Minuten länger
- Und jetzt noch mal tausend Autos oben drauf => Sie brauchen dreißig Minuten länger
Das bedeutet: Straßenverkehr ist fragil. Je höher die Volatilität, umso schlimmer wird es. Und zwar nichtlinear.
Die Upside ist begrenzt, die Downside nicht. Wenn Sie zwischen Mitternacht und vier Uhr in der Früh fahren, schinden Sie vielleicht fünf Minuten heraus, aber dafür verlieren Sie eine Stunde im Berufsverkehr.
Volatil ≠ riskant
Diese negative Asymmetrie ist typisch für fragile Systeme. Hier bedeutet volatil: Es ist riskant.
Antifragile Systeme dagegen haben eine begrenzte Downside und eine nach oben offene Upside. Typisches Beispiel: Lesen eines Buchs. Downside: 14,43 € und ein paar Stunden Zeit. Upside: Ganz neue Erkenntnisse, die Ihr Leben verändern.
Hier bringt die Volatilität nicht das Risiko, sondern die Chance ins Haus.
Wenn Sie ein Risiko mit geringer Downside aber attraktiver Upside finden: Experimentieren Sie. Vielleicht erwischen Sie ja die Upside. Dieses "niemand bekommt die Marktrendite" kann ja auch bedeuten, dass Sie die das zehnfache der Marktrendite bekommen.