Googlen wir mal "Derivat". Was finden wir? Das hier:
"Ein derivatives Finanzinstrument oder kurz Derivat (lateinisch derivare "ableiten") ist ein gegenseitiger Vertrag, der seinen wirtschaftlichen Wert vom beizulegenden Zeitwert einer marktbezogenen Referenzgröße ableitet. Die Referenzgröße wird als Basiswert (Underlying) bezeichnet.
Wikipedia
Alles klar oder eher "hä"?
Was liefert die Exegese dieses Textes?
- Es gibt einen Basiswert.
- Dieser Basiswert ist messbar.
- Der Wert dieses Basiswerts schwankt im Laufe der Zeit.
- Der Wert des Derivates ist verknüpft mit dem Wert des Basiswertes. Verändert sich der Wert des Basiswertes, so verändert sich auch der Wert des Derivats.
An alle, die Mathe nicht nach der zehnten Klasse abgewählt haben: Woran erinnert Sie das? Genau, an die gute alte Funktion. Man steckt x rein und bekommt y heraus. Ein Derivat ist reine Finanzmathematik. Alles, was die Mathematik erlaubt ist "fair game".
Jetzt machen wir "Sendung mit der Maus":
Wir basteln uns ein eigenes Derivat
Was brauchen wir? Als erstes einen oder mehrere Basiswerte, die messbar sind. Es ist dabei vollkommen unerheblich, ob diese Werte aus der Finanzwelt kommen. Hauptsache messbar und zeitlich schwankend. Infrage kommen
- der Luftdruck über Hamburg,
- die in Berlin verbrauchte Menge Strom,
- die Zahl der Autos, die die Kreuzung Fürstenrieder Str. / Gotthardstraße in Richtung A96 passieren,
- die durchschnittliche Änderung des Benzinpreises aller Tankstellen in Köln,
- oder der Wasserstand des Nils.
Aber warum wird dann so oft ein Finanzprodukt als Underlying gewählt? Nun, da ist die Infrastruktur schon vorhanden. Die Kurse werden eh in Echtzeit erfasst. Da mieten wir uns einfach diesen Stream und legen los mit dem Derivatedesign. Wie soll das den praktisch gehen mit dem Wasserstand des Nils oder mit der Zahl der Autos, die die Kreuzung Fürstenrieder Str. / Gotthardstraße in Richtung A96 passieren?
Da müssen wir
- eine passende Messinfrastruktur aufbauen
- dann die Messintervalle festlegen (Echtzeit, jede Minute, jede Viertelstunde, zwei mal täglich…) und
- die störungsfreie Übertragung ins Rechenzentrum sicherstellen.
Zurück zu unserem Derivat: Ich entscheide mich für die Variablen Temperatur und Niederschlag. Der Funktionszusammenhang soll wie folgt sein:
- Der Derivatpreis steigt, wenn die Temperatur fällt.
- Der Derivatpreis steigt, wenn die Niederschläge steigen.
Finanzwesir, Finanzwesir, was haben diese Variablen denn mit Finanzen zu tun? Nichts. Aber warum soll der Finanzwesir den einfachen Weg gehen, wenn er auch den coolen gehen kann? Außerdem bringe ich sonst meinen Spruch mit Gunter Gabriel nicht unter.
Jetzt die Mathe
- Den Derivatpreis kürze ich mit P ab.
- Die Temperatur bekommt ihr t.
- Die Niederschlagssäule das s.
Damit ist P(t,s) = 0,2*s * 0,9t
Und warum ist das so? Weil ich das so Kraft meiner eigenen Herrlichkeit festgelegt habe. Ich habe beschlossen das Derivat so zu konstruieren und solange die Mathematik nicht murrt, weil ich durch Null dividieren will, bin ich im grünen Bereich. So machen es die Banken auch. Nicht vergessen: Derivatedesign ist pures Finanz-Engineering. Und so sieht die Funktion aus.
3D Funktions-Plotter von MathsTools
Das war jetzt eine sehr einfache Funktion. Um das Ganze etwas unübersichtlicher zu gestalten, können wir Temperaturbereiche bilden.
- Von - 40°C bis -5°C hängt das Ganze vor allem von der Temperatur ab. Die Niederschläge gehen mit einem konstanten Schnee-Faktor ein.
- Temperaturen zwischen -5°C und 5°C bedeuten Schneematsch und überfrierende Nässe, hier geht die Niederschlagsmenge exponentiell ein.
- Ab 5°C aufwärts gibt’s nur noch Regen. Hier geht die Niederschlagsmenge nur noch mit einem konstanten Regen-Faktor in die Berechnung ein.
Wir können diese Funktion auch noch weiter aufpeppen und die schwankenden Benzinpreise einbauen. Dann sind wir endgültig in der vierten Dimension angelangt. Kennen Sie ja aus dem SF-Genre: "Auf mein Wookie - erst den Raum gefaltet und dann ab durchs Wurmloch".
Oder wir lassen die Derivate-Designer (meist Mathematiker, theoretische Physiker oder E-Techniker) eine Runde Amok laufen. Dann rüsten sie die Derivate-Funktion mit allerlei Nichlinearitäten und Effekten höherer Ordnung hoch. Dann kann es passieren, dass sich bei einer bestimmten Kombi aus Temperatur, Benzinpreis, Regenmenge und Verkehrsdichte plötzlich ein Wurmloch auftut und die Preise für das Derivat in der Unendlichkeit entschwinden.
Nicht vergessen: Aktien und Anleihen sind die natürlichen Bewohner des Finanzbiotops, Derivate werden im Labor gezüchtet. Wenn Derivat auf schwarzen Schwan trifft, kann das zu "hübschen Effekten" kommen. So hat es unser Mathe-Prof damals im Studium ausgedrückt.
Hm Finanzwesir, tolle theoretische Herleitung. Aber hast Du bei Deiner Mathe-Begeisterung nicht eins vergessen: Wozu ist das Derivat gut? Wer soll es kaufen?
Der Derivate-Markt
Nun, wie wär’s mit Gunter Gabriel? Hallo, der Gunter ist 74! Was soll der denn mit einem Derivat? Ok, nicht Gunter. Aber die, die er besingt, die Trucker, die Kapitäne der Landstraße.
Ich habe mein Derivat so konstruiert, dass sein Wert steigt, wenn auf den Straßen Stress herrscht.
Stress auf den Straßen bedeutet: Die Erlöse aus dem Frachtgeschäft sinken. Mein Derivat hilft diese Verluste zu verkleinern. Klar wird es einige Spediteure geben, die das für neumodischen Mädchenkram halten, denn ein echter Trucker kommt immer durch. Aber ich bin mir sicher: Es gibt einen Markt. Dieses Derivat lässt sich mit guten Argumenten verkaufen.
Sorry Finanzwesir, zu kurz gesprungen. Zugegeben, das Derivat hat zwar nicht direkt etwas mit Aktien und Anleihen zu tun, ist aber trotzdem sinnvoll und nützlich. Aber einen Markt hast Du immer noch nicht.
- Die Trucker kaufen das Papier.
- Die Straßenverhältnisse verschlechtern sich.
- Die Trucker wollen verkaufen.
- Wer kauft ihnen das Derivat ab?
Ein Markt, der nur aus Verkäufern besteht ist genauso gut wie "kein Markt".
Ein Hoch auf die Heuschrecke
Stimmt! Wer kann uns retten? Die Heuschrecken. Wir brauchen Spekulanten. Anrüchige Gestalten, die Liquidität in den Markt bringen und - wie ekelerregend - nur um des Profits willen handeln!
Wer wäre für diese Rolle besser geeignet als Sie. Ich? Hallo Finanzwesir, ich bin ein ehrbarer Mensch mit einer guten Kinderstube! Ich mach’ so was nicht.
Das glaube ich Ihnen sofort. Als Mensch mit Stil delegieren Sie die Drecksarbeit.
Tue ich nicht! Ich habe niemanden zum delegieren.
Wirklich nicht? Sie haben keine Altersvorsorge? Ein bisschen Riester, eine kleine Betriebsrente, nichts am Start? Ah, doch! Dann schauen wir doch da mal genauer hin.
Was sehen wir: Einen armen Produktmanager zwischen Skylla und Charybdis. Auf der einen Seite sitzen Sie und nörgeln bei jedem Blick auf den Kontoauszug:"Rendite, ich will Rendite, warum krieg’ ich keine Rendite!"
Aud der anderen Seite sitzt die Charybdis namens Bafin mit ihrem Garantie-Schafott: "Banker, Banker, wehe Du zahlst nicht auf Heller und Pfenning zurück, was man Dir gegeben hat!".
Bei einem Zinsatz von einem 1% pro Jahr kann der Produktmanager keine großen Sprünge machen. Er muß rund 66% Ihrer Zahlungen supersicher verstauen, sonst landet er im Schlund von Charybdis.
Nun will er aber auch nicht von Ihnen als schlechtgelaunte Skylla gefressen werden. Was macht er? Er wendet sich mit den verbleibenden 34% des Geldes vertrauensvoll an mich, den Dealer seines Vertrauens.
Er braucht Rendite und zwar schnell. Deshalb fragt er nicht nach dem normalen Kokain, sondern will das Crack. Diesen Loser-Kram für die Trucker kann er nicht brauchen. Er fragt nach gehebelten Derivaten: Kleiner Platzregen und der Derivatpreis macht einen auf Tsunami.
Einschub: Bis jetzt haben wir uns mit dem sinnvollen - aber homöopatischen - Anteil des Derivatemarkts beschäftigt. Nun wird’s spannend.
Zurück zu unserem Banker. Wie kann ich ihm helfen? Ein Telefonat genügt. Ich rufe meine Finanzingenieure an, gebe die Spezifikationen durch und voilà, da sind sie.
Das Tolle an Derivaten: Man kann sie endlos vermehren. Aktien und Anleihen haben noch einen Bezug zur Realität. Bayer will Monsanto aufkaufen und legt deshalb eine Pflichtwandelanleihe im Volumen von vier Milliarden Euro auf. Diese vier Milliarden sind nicht vom Himmel gefallen, sondern der Finanzvorstand hat den Kapitalbedarf genau ausgerechnet. Vier Milliarden, das ist wirtschaftlich sinnvoll.
Auch eine Kapitalerhöhung durch die Ausgabe neuer Aktien orientiert sich an wirtschaftlichen Zielen. Neben wir als Beispiel die SGL Carbon:
Die Firma möchte ihr Kapital um 180 Millionen Euro erhöhen. Mit dem Geld soll die Kapitalstruktur verbessert sowie die Verschuldung reduziert werden, so der Konzern. Im Rahmen der Kapitalerhöhung sollen 30 Millionen neue Aktien zu einem Bezugspreis von 6 Euro je neuer Aktie ausgegeben werden.
Wie viel Kapital brauchen wir, was gibt der Markt her? In diesem Spannungsfeld hat der Vorstand beschlossen: 180 Millionen Euro sind ein realistisches Ziel.
Ganz anders Derivate: Solange die IT genügend Terrabyte zur Verfügung stellt, kann ich Derivate verkaufen, bis der Arzt kommt. Schlimmstenfalls macht die IT eine neue Cloud für den Geld-Monsun auf. Ich sagte ja bereits: Crack - synthetisch knallt doch am dollsten.
So kommt die Liquidität in den Markt. Den Truckern kaufe ich Ihr Zeug ab, bündele zu Derivaten zweiter Ordnung und verhökere diese Pakete mit einem AAA-Rating an Sie (also an den Produktmanager, der Ihre Altersvorsorge verwaltet). So sind alle zufrieden.
- Ich kriege einen Haufen Geld.
- Sie bekommen Ihre Rendite.
- Der Produktmanager seinen Bonus.
Wenn Sie mit 67 dann feststellen: "War doch nicht so soll mit der Rendite", werden der Produktmanager und ich Ihnen zustimmen, während wir uns am Strand von Curaçao mit einem Mojito zuprosten.
Ich meine: Sie werden doch nicht wirklich geglaubt haben, dass ein 100-Millionen-Markt (Wert der Versicherungsleistungen, die das Speditionsgewerbe abschließt) sich zu einem 1.000-Milliarden-Markt aufblasen läßt?*
Wer ist schuld?
Die Banker und ihr Sauron-Gen natürlich!
Sauron-Gen? Kenn’ ich nicht.
Sauron ist der Oberböse des Epos "Herr der Ringe". Ihm zu Diensten sind die Orks (das sind die mit den schlechten Zähnen). Die Schöpfungsgeschichte der Orks geht so: Sauron fing ein paar Elben.
Elben?
Das sind die Spitzohren mit den makellosen Zähnen. Überhaupt sind Elben als Gestalten des Lichts ziemlich perfekt: Sehen megagut aus, dichten wie Schiller und Goethe zusammen, können singen, kochen, bringen immer den Müll raus und kämpfen selbstverständlich überragend. Heutzutage halten sie sich bevorzugt bei bei Parship oder Elitepartner auf.
Diese heißen Typen hat der Sauron sich geschnappt und so lange gefoltert, bis sie zu Orks wurden.
Und was hat das mit Bankern zu tun?
Nun, gibt ihnen einen harmlosen ETF und sie werden so lange an ihm herumschnibbeln, bis eine Bestie ihr Haupt erhebt.
Sind wirklich die Banker ganz allein schuld?
Wer im Biounterricht aufgepaßt hat weiß: Wir Menschen haben eine grundsätzliche genetische Ausstattung, aber je nach Umwelteinflüssen werden bestimmte Gensequenzen aktiviert oder stillgelegt.
Drängt es die Saurons ins Bankbusiness oder aktivieren unsere unbarmherzigen Renditewünsche das Sauron-Gen erst? Tja, und schon wieder stellt sich heraus: Alles hängt mit allem zusammen und ein Hauch von griechischer Tragödie weht durch die Arena.
Grriechische Tragödie = Egal, wie man es dreht und wendet - es geht immer schlecht aus.
So, das war’s für Heute. Wir hatten Mathe, Gunter Gabriel, Sauron und griechische Tragödie. Das muss reichen. Für Conan den Barbar hat’s dieses Mal nicht gereicht. Aber für den finde ich in einem der nächsten Artikel auch noch ein Plätzchen. Und Sie überlegen sich diese Sache mit den Derivaten noch mal.
* Fantasiezahlen von mir. Es geht mir um die Größenordnungen.