Leser R. schreibt
Ich bin 37 Jahre alt, Beamter und die Hochzeit und geplante Familiengründung stehen kurz bevor. Auch als Familie werden wir mieten. Da meine Freundin und ich berufstätig sind und sparsam zugleich, haben wir inzwischen ca. 180.000 € angespart (Tagesgeld).
Unser Problem: Wie und in welcher Höhe soll das angesparte Geld angelegt werden? 50.000 € auf dem Tagesgeldkonto belassen und die restlichen 130.000 € in MSCI World und Emerging Markets ETFs anlegen im Verhältnis 70% zu 30%?! So viel Geld auf einmal anzulegen bei einer möglicherweise bevorstehenden Marktkorrektur bereitet mir ehrlich gesagt Sorgen.
Leser B. schreibt
Ich bin 34 Jahre alt, Arzt, ledig und habe nun 20.000 Euro zusammengetragen die ich gerne in ETFs (70% MSCI World + 30% MSCI Emerging Market) über einen Zeitraum von rund 20 Jahren anlegen möchte.
Jetzt wo der Geldbetrag jedoch gebündelt auf meinem Konto liegt bekomme ich etwas kalte Füße. Allenthalben wird vom kurz bevorstehenden Börsencrash geredet. Ich weiß, dass bei einem langfristigen Anlageziel (Buy & Hold) kurzzeitige Schwankungen vorkommen und auf lange Sicht geplant werden soll. Trotzdem verunsichern mich derlei Prophezeiungen über den möglichen Börsencrash. Wie sehen Sie die Lage?
Der Finanzwesir antwortet kurz
"Wie sehen Sie die Lage?"
Entspannt.
Der Finanzwesir antwortet lang
Was sind R., seine Freundin und B.?
Sparer.
Was sind Sparer?
Menschen, die langfristig denken und planen und Berechenbarkeit schätzen. Sag mir Deine Sparrate, Deinen Zinssatz und den Kontostand, dann sage ich Dir, was Du am Jahresende auf dem Konto hast.
Sparer sein - das können die drei.
Was wollen R., seine Freundin und B. werden?
Anleger.
Was sind Anleger?
Menschen, die langfristig denken und planen und bereit sind Berechenbarkeit gegen Rendite zu tauschen. Der Lohn der Ungewissheit heißt Dividende plus Kurssteigerung.
Anleger werden - damit hapert es noch ein bisschen.
Erste Erkenntnis
Es kommt nicht auf die Summe an, die angelegt werden soll. Ich habe R. und B. nur exemplarisch herausgegriffen. Leser C. treibt es wegen 5.000 € um, Leserin V. bekommt ab 600.000 € kalte Füße…
Das Problem ist höchst individuell und unabhängig von Alter und Geschlecht.
Zweite Erkenntnis
Leser R.
"…einer möglicherweise bevorstehenden Marktkorrektur….
Leser B.
"Trotzdem verunsichern mich derlei Prophezeiungen über den möglichen Börsencrash."
Merke: Der Crash-Prophet gehört zur Börsenfolklore, wie der Gondoliere zu Venedig. Diese Jungs beleben das Geschäft mit ihren wirren Thesen.
Stellen Sie sich vor, wie langweilig die Börse wäre, wenn alle so wären wie ich: "Investier’ langfristig, breit gefächert und dann lass gut sein." Wo bleibt da das Drama? Jeder Mann braucht ein Hobby. Manche schreiben Fantasy-Romane, andere werden Crash-Prophet. Wird gut bezahlt und man kommt rum.
Dritte Erkenntnis
Alle drei müssen über den Rubikon. Es hilft nun nichts. Ein Anleger tauscht die
- knallharte Wenn-Dann-Gewissheit (wenn Sparrate x und Zins y, dann Summe z) des Sparers gegen eine
- statistische Gewissheit ein (wenn Sparrate x und Zeitraum y, dann in 95% aller Fälle die Summe z).
Ist wie in der Schule damals: Erst war nur plus, minus, mal, geteilt und darauf gab’s noch Prozente. Dann tauchten auf einmal die Integrale auf. Es wird abstrakter. Diesen Abstraktions-Rubikon müssen die drei überwinden sonst wird das nichts mit dem Anlegerdasein.
Und ich gebe zu: Es macht die Sache nicht einfacher, wenn man auf dieser wackeligen Hängebrücke von einem Haufen crash-keifender Makaken begleitet wird.
Was tun?
Das was ich immer rate: Anfangen.
- Broker: Egal, Hauptsache unter der Knute der Bafin
- ETFs: Egal, Hauptsache ein breiter Brot&Butter-Index => ist hier der Fall
- Mischung: Egal, von mir aus auch nur mit einem MSCI World. Bei den Summen, die R. und B. anlegen wollen sind aber zwei ETFs absolut ok.
- Anlagesumme: Nicht egal - nur soviel, das sie bei minus 50% nicht verkaufen.
Was konkret tun?
- Diesen Artikel lesen (10 Minuten)
- Zu einem regulierten Broker mit Videoident gehen und ein Depot eröffnen (60 Minuten)
- Geld auf das Verrechnungskonto des Depots überweisen (10 Minuten). Mindestens 2.000 € für die MSCI EM-Tranche. Dann sind die Kaufgebühren akzeptabel. Den MSCI-World-Anteil prozentual entsprechend.
- Am nächsten Tag (wenn das Geld vom Girokonto da ist): Einen ausschüttenden ETF auf den MSCI World kaufen und einen EM-Ausschütter. Welchen? Den, der bei JustETF die geringste Kostenquote hat. 20 Minuten für die Recherche bei JustETF, 30 Minuten für die beiden Käufe.
Gesamtaufwand: 120 Minuten = 2 Stunden.
Waaas!!???
Ja, das war’s. Mehr ist nicht nötig.
Aber ist das nicht total unseriös, die Altersversorgung so leichtfertig anzugehen?
Absolut! Vollkommen unseriös.
Hä???
Ich war letztens in einem Seglerforum. Da wurde heftig diskutiert welcher Schein denn der richtige sei (SBF See, SKS, SHS). "Ist ja schön und gut mit diesen Scheinen", sagten die alten Salzbuckel, aber "Segeln lernt man nur durch Segeln".
Hallo Finanzwesir nicht ablenken. Es geht um meine Altersvorsorge und nicht ums Segeln.
Nö, geht es nicht. Es geht ums Anfangen nicht um die Altersvorsorge. Altersvorsorge kommt später. Wer beruflich was mit Internet macht, kennt die Abkürzung MVP. Man geht zum Risikokapitalisten und zeigt sein MVP vor. Das MVP ist das
"Minimum Viable Product, engl. für minimal funktionsfähiges Produkt, umfasst die unbedingt erforderlichen Basisfunktionen eines Produkts."
Und genau das haben wir uns hier gebaut. Was ist die einzige Funktion auf wir nicht verzichten können? Ordentlich eins auf die Nase zu bekommen und Kursverluste zu durchleiden. Das kann unser MVP hervorragend. Das mit der Rendite und der Assetallokation kommt später. Erst mal den Rubikon überschreiten.
Und was hat das mit den Salzbuckeln zu tun?
Nun, anlegen lernt man nur durch anlegen. Ich schreibe diesen Artikel auch, weil mich hier ganze Doktorarbeiten erreichen. Alle Schreiber sind darauf bedacht "alles richtig zu machen". Aber letztendlich ist es das komplette Eunuchentum. Nur Theorie, keine Praxis.
Liebe Leute: Woher nehmt ihr die Arroganz beim ersten Mal alles richtig zu machen? Das klappt doch nie. Das neue Richtig ist das "weniger falsch".
Was ist denn der maximale Schaden? Den falschen ETF beim falschen Broker zu lagern. Schön, und? Der ETF wird verkauft, das Depot umgezogen. Fertig. Alles total reversibel.
Woher der Irrglaube, gerade hier ohne Lehrgeld davonzukommen?
"Ein guter Plan, der sofort kraftvoll umgesetzt wird, ist besser, als ein perfekter Plan der nächste Woche umgesetzt wird."
General George Smith Patton jr
Hört, hört: kraftvoll!
Fazit
Ich verstehe R. und B. aber helfen kann ich nicht. Die Aktivierungsenergie für den Börsengang muss jeder selbst aufbringen. Und ja, die Crash-Propheten nerven.
Ich sehe das aber mittlerweile als Teil eines Emanzipationsprozesses. Wer sich entscheidet, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen wird zwangsläufig mit den unschönen Begleiterscheinungen konfrontiert und muss lernen damit umzugehen.
Klar, Berater bügeln das gegen einen kleinen Obolus weg. Aber wenn es dann erst wird, sind die alle weg und man muss die Suppe doch alleine auslöffeln. Ein selbstbestimmtes Leben kann manchmal ganz schön anstrengend sein.