Leser H. fragt
Ich finde Ihre Argumentation gut und überzeugend. Nach langem Zögern habe ich dann im Sommer diesen Jahres zwei ETFs gekauft, die mich durch Beständigkeit in den letzten Jahren überzeugt haben: MSCI World und MSCI Emerging Markets.
Ich wollte kein unnötiges Risiko eingehen und eine relativ beständige Rücklage schaffen.
Nach kurzem Anstieg geht es in den letzten Monaten relativ kontinuierlich mit den Bewertungen für beide Depots bergab. Ich weiß, das sind alles keine Zeiträume.
Aber wenn ich das Tagesgeschehen verfolge, dann bin ich mir sicher, dass dieses Durcheinander noch ein paar Jahre so weiter geht. Ein paar große "Strategen" verhindern Kontinuität. Daher meine Frage:
Bin ich einfach nur zu ängstlich und muss ich das aussitzen?
Insbesondere der MSCI Emerging Markets stützt sich doch offensichtlich auf Märkte, die vom Durcheinander gerade besonders betroffen sind. Würden Sie mir aus heutiger Sicht ganz andere Depots für die nächsten Jahre empfehlen?
Der Finanzwesir antwortet
- Leser H. findet meine Argumentation "gut und überzeugend".
- Leser H. möchte von mir eine Empfehlung für ein "ganz anders Depot" haben.
Wie argumentiert er denn so der Finanzwesir
- Et is wie et is
- Et kütt wie et kütt
- Et hät noch immer jotjejange
Die Punkte eins und zwei akzeptieren den Kontrollverlust. Punkt drei steht für den unverwüstlichen rheinischen Optimismus.
Dagegen die Wortwolke des H.: "Langes Zögern, Beständigkeit, unnötiges Risiko, Kontinuität".
Mich deucht: Da ist jemand an die Börse gegangen, der eigentlich nur 4% aufs Tagesgeld will.
Blöd: Niedrige Zinsen sind kein Grund um an die Börse zu gehen.
Noch blöder: Die Währung der Börse heißt Kontrollverlust. Das wusste schon Altmeister Kostolany
"Ich habe die Börsianer deshalb in zwei Kategorien eingeteilt: Die Hartgesottenen und die Zittrigen. Die Hartgesottenen sind Anleger und Spekulanten in dem Sinne, wie ich die Worte verstehe. Sie gehören langfristig zu den Gewinnern an der Börse. Ihr Gewinne bezahlen die Zittrigen, zu denen ich vor allem die Börsenspieler zähle."
"Was unterscheidet die Hartgesottenen von den Zittrigen? Der Hartgesottene verfügt über die vier G, die der preußische Generalfeldmarschall von Moltke auch für eine erfolgreiche Kriegsführung als unerlässlich betrachtete: Geld, Gedanken, Geduld - und natürlich auch Glück."
André Kostolany in "Die Kunst über Geld nachzudenken"*
Hat H. Geduld?
Nein. Er will ein "neues Depot" haben und qualifiziert sich damit als Börsenspieler im Kostolany’schen Sinne.
Solange sich nichts an der grundlegenden Situation ändert, gibt es kein neues Depot. Sinkende Kurse qualifizieren sich nicht als "grundlegende Änderung". Das ist der normale Wellengang. Grundlegende Änderungen sind: Jobverlust, Heirat, Familiengründung, schwere Krankheit, Verrentung.
Hat H. Gedanken?
Dazu müssen wir erst einmal klären: Was meint Kosto mit "Gedanken haben"?
Wer sich Gedanken macht, hat eine Strategie. Ob diese Strategie richtig oder falsch ist, ist erst einmal nebensächlich. Wichtig ist nur, dass Sie überlegt handeln und Vorstellungskraft besitzen. Wo will ich in fünf, zehn, fünfzehn Jahren sein? Welche Weichen muss ich heute stellen, um meine zukünftigen Ziele zu erreichen?
Wer sich Gedanken gemacht hat und überzeugt von seinen Überlegungen ist, muss daran festhalten. Weder Freunde noch die Medien dürfen einen vom Weg abbringen.
Daraus ergibt sich: Ein bisschen Arroganz schadet nicht. Ihre Strategie ist überlegen und dabei bleibt es.
Deshalb glaube ich auch nicht, dass H. meine Argumente "gut und überzeugend findet". Sein Großhirn vielleicht, aber Herz und Amygdala sind längst im Panikmodus. Das bedeutet: Er hat auch keine Gedanken.
Keine Gedanken und keine Geduld. Dann werden es Geld und Glück auch nicht mehr richten.
Am Puls der Zeit
H. verfolgt eifrig das Tagesgeschehen und hat einen Anlagehorizont, der sich in Jahren, wenn nicht Dekaden bemisst. Die Finanzer nennen das Fristentransformation und das ist noch nie gut ausgegangen.
Tagesgeschehen: Musk & Trump twittern. Was hat das mit der langfristigen Wirtschaftskraft der Firmen aus 23 Industrienationen und 24 Schwellenländern zu tun?
Das Millionenheer
Der MSCI World beteiligt sich an rund 1.600 Firmen; der MSCI Emerging Markets versammelt 800 Firmen.
Für die Firmen, die im MSCI World gelistet sind arbeiten gut 23 Millionen Menschen. Alle Schwellenland-Firmen beschäftigen knapp 18 Millionen Menschen.
Zusammen sind das gut 41 Millionen Beschäftigte.
Zum Vergleich: Im September 2018 zählt Statista in Deutschland 44,81 Millionen Erwerbstätige.
Wie bin ich auf die Zahl gekommen? Ich habe für jeden Index die 25 Firmen mit der größten beziehungsweise kleinsten Gewichtung herausgesucht. Für jede dieser 100 Firmen habe ich die Zahl der Mitarbeiter recherchiert.
Dann habe ich für jeden Index die Gewichtungen und die Zahl der Mitarbeiter der beiden Segmente addiert. MSCI World: 5,1 Millionen Beschäftigte entsprechen einer Gewichtung von 22 %. Dann Dreisatz: Wie viele Beschäftigte entsprechen 100 %?
Das Ganze noch mal für den EM.
Das ist eine grobe Abschätzung. Auf eine Million mehr oder weniger kommt es mir nicht an. Wichtig ist nur: Solider zweistelliger Millionenbereich.
Alle Firmen das World und des EM beschäftigen zusammen so viele Leute, wie in Deutschland arbeiten.
Mit anderen Worten: H. hat sich die Intelligenz von 41 Millionen Wissenschaftlern, Ingenieuren, Kaufleuten und Logistikern gesichert. Diese Leute arbeiten nicht im luftleeren Raum.
Sie haben Familie und Freunde. Im Beruf sind sie in ein Netzwerk aus Kunden und Zulieferern eingebunden. Wer sich bei Xing die Zahl der Personen ansieht, die man über drei Ecken kennt stellt fest: Das geht explosionsartig nach oben. In unserem Fall entstehen da Netzwerkeffekte, die gut und gerne eine halbe Milliarde Menschen umfassen.
Eine halbe Milliarde Menschen, das sind eine halbe Milliarde Wünsche, Ziele, Hoffnungen, Ansichten, Lebenspläne, alle verwoben in ein komplexes Netz aus Rückkopplungen, Wechselwirkungen und Redundanzen.
So ein Netzwerk ist robust und hält was aus. Oder wie der Müncher sagt: "A bisserl was geht immer."
Warum sind diese Firmen im Index? Weil sie eine gewisse Marktkapitalisierung haben.
Warum haben sie diese Marktkapitalisierung? Weil sie entsprechende Umsätze machen und Gewinne einfahren. Die Prosperität einer Firma hängt von der Intelligenz und Tatkraft ihrer Mitarbeiter ab.
41 Millionen Menschen: Verblöden die spontan, wenn der Kurs sinkt? Was ändert es, wenn The Donald oder der gute Elon auf Twitter furzen? Nichts!
Hier schlägt der Availability Bias mit voller Wucht zu. Das, was uns nahe und vertraut erscheint, wird als wichtig und einflussreich erlebt.
In den Tiefen des MSCI World findet man Li & Fung. Was verbirgt sich dahinter?
- Ein Komiker-Duo, das "Dlei Chinesen auf dem Kontlabass" intelpletielt.
- Eines der größten Handelshäuser der Welt.
Und was machen die? Auf Twittel stallen und Tlump lesen oder professionell ihren Geschäften nachgehen, Umsatz generieren, Dividende zahlen?
Jeder dieser 41 Millionen Menschen hat 100 Milliarden Neuronen in seinem Gehirn. Auch wenn sich H. diese ganzen Gehirne mit vielen Millionen Anlegern teilt: Da bleibt noch genug Intelligenz übrig, die für H. arbeitet.
Die Zeit
"Ich weiß, das sind alles keine Zeiträume."
Wahrlich nicht. Wir reden hier von drei Monaten, auch Quartal genannt. Davon gibt’s vier pro Jahr und Buy & Hold ist es erst ab 10 Jahren. Ein Quartal ist ein Vierzigstel (2,5%) dieses Zeitraums. H. hat erst 2,5% seiner Achterbahnfahrt hinter sich. Auf den verbleibenden 97,5% der Strecke warten noch etliche Loopings und Parabelflüge auf H.
Risiko
"Ich wollte kein unnötiges Risiko eingehen und eine relativ beständige Rücklage schaffen."
Definiere unnötiges Risiko. Das Hauptrisiko ist es doch nichts zu tun und zu hoffen, dass der Elch an einem vorübergeht. Tut er aber nicht. Nie. Elche sind schlau, die finden jeden im Gebüsch.
"Märkte, die vom Durcheinander gerade besonders betroffen sind"
Durcheinander ist immer. Jedes Jahr gibt es auf der Welt irgendwo ein mehr oder minder großes Durcheinander.
Das Aushalten von Unsicherheit ist der Filter, der die Erfolgreichen von den Erfolglosen trennt.
"Uncertainty is an uncomfortable position. But certainty is an absurd one."
Voltaire
Das gilt selbst für so etwas Traditionelles wie Karriere im Konzern. Heiko Mell (Karriereberatung VDI schreibt)
"Würden wir jede Chance verwerfen, mit der ein Risiko verbunden ist, ginge es niemals irgendwo vorwärts."
Die großen Strategen
H. schreibt
"Ein paar große "Strategen" verhindern Kontinuität."
Jetzt muss ich doch mal schlecht gelaunt werden.
Der hier im Norden sehr verehrte Helmut Schmidt war in meiner Jugend der Nachrüstungskanzler. Interessierte googlen nach "Pershing II", "NATO-Doppelbeschluß" und "Nachrüstung".
Am 22. Oktober 1983 kamen 500.000 Menschen zur inzwischen legendären Demonstration gegen die atomare Nachrüstung in den Bonner Hofgarten. Deutschland war damals als Schlachtfeld für den Panzerkrieg zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO vorgesehen.
Als meine Eltern jung waren, wollte Genosse Chruschtschow Atomraketen nach Kuba senden. Keine gute Idee fand Kennedy. Der dritte Weltkrieg wurde ganz knapp abgesagt.
Als meine Großeltern jung waren, war Opa an der Front und Oma musste zusehen, dass sie mit den kleinen Kindern rechtzeitig den Bunker erreichte.
Da waren "große Strategen" am Werk.
Die heutige Jugend bricht wimmernd zusammen und fühlt sich gemobbt, weil: WLAN weg!
Merkt Euch: Früher war alles schlechter. Dazu meine Buchempfehlung
Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist* von Hans Rosling, Anna Rosling Rönnlund, Ola Rosling
Die Glaskugel
"Würden Sie mir aus heutiger Sicht ganz andere Depots für die nächsten Jahre empfehlen?"
Was ich gerne machen will: H. eine Empfehlung für 2009 geben: All-in Amazon. H. muss sich dann nur noch mit Hermine Granger gut stellen. Sie wird ihm sicher ihren Zeitumkehrer ausleihen.
Quelle
Merke: Jede Zeit hat ihr optimales Depot. Das optimale Depot lässt sich aber nur ex post feststellen. Ex post ist Latein für "hätte, hätte, Fahradkette".
Was soll H. tun?
Bessere Gedanken müssen her und kein neues Depot.
Den schlimmsten Fall planen
Das Depot halbiert sich, was bedeutet das in Euro? In welcher Relation steht diese Summe zu anderen Beträgen. Sind das vier Monatsmieten, der Jahresurlaub, zehn mal Essen gehen?
Jede Sparrate verdampft und das 9 Monate in Folge. Nehmen wir an, H. hat 5.000 € gespart, seine monatliche Sparrate beträgt 500 €. Die Kursverluste fressen die Sparrate auf. Sein Vermögen pendelt immer um die 5.000 €.
Das kann ich mir nicht leisten!
Wirklich? Wie lang ist denn die Liste der Fehlkäufe? Dinge, die unbedingt gekauft werden mussten, Reisen, die unbedingt gemacht werden mussten und die sich als Geld- und Lebenszeitverschwendung entpuppt haben.
Hat Sie das ruiniert?
Nein! Warum sollten es dann Buchverluste in geringerer oder vergleichbarer Höhe tun?
Betrachten Sie Ihre Buchverluste nicht isoliert, sondern setzen Sie sie in Beziehung zu anderen Zahlen in Ihrem Leben.
Wenn es emotional trotzdem nicht zu verkraften ist: Sparrate senken. Geld wird verdient, indem man es nicht verliert. Wenn H. mit Hängen und Würgen noch ein paar Monate aushält und dann doch verkauft, hat er definitiv Geld verloren. Dann lieber Tagesgeld.
Mediendiät & Ablenkung
Das tägliche Gekreische bringt keinen Erkenntnisgewinn. Es würde mich nicht wundern, wenn die Finanzpornographen mehr Depots zerstört haben als die Drückerkolonnen der einschlägigen Finanzvertriebe.
Man müsst mal eine Studie aufsetzen: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Höhe der Sparrate?
- X pfeift sich regelmäßig Finanzpornos rein, seine Sparrate 50 €.
- Y blendet den ganzen Lärm aus, seine Sparrate 500 €.
Als Therapie bieten sich an: Netflix, ein gutes Buch, ein Craftbeer mit Freunden, Familie, Hobby. Von mir aus auch Reisen.
Treffen
Geteiltes Leid ist halbes Leid. Ist ja nicht so, dass nur H.s Depot rot ist. Wie wäre es mit dem Besuch einer Autonomen Zelle?
Fazit
Egal ob ETFs, Einzelaktien, Immobilien oder P2P: Die Zukunft gehört den Hartgesottenen. Denen, die einen Plan haben und Kurs halten. An Kostos 4 G gibt es nichts zu rütteln.
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