
Seite 508, Anhang D des 6. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung vom Mai 2021:
"Personen, deren individuelles Vermögen die Schwelle von 500.000 Euro überschreitet: 3,8 %"
Knapp vier Prozent, was ist daran so aufregend? Eine halbe Million in ETFs muss man ja erst mal zusammen sparen. Das dauert.
Nee, nee, Immos included.
Erfasst werde folgende Vermögenskomponenten:
- Bruttovermögen aus selbstgenutzter Immobilie
- Bruttovermögen aus weiterem Immobilien
- Geldvermögen
- Anlagenvermögen
- Betriebsvermögen
- Sachvermögen
- Schulden durch Hypothekarkredit der selbstgenutzten Immobilie
- Schulden durch Hypothekarkredit der weiteren Immobilien
- Schulden durch Konsumkredite
Assets minus Schulden gleich Reichtum. Soweit so verständlich.
Aber ich habe doch 100.000 Euro Schulden!
Na und - wenn ImmoScout sagt: Die Hütte ist 600.000 Euro wert, dann sind Sie ein Vierprozenter. Dann sind Sie der Friedrich Merz von nebenan.
Trösten Sie sich. Hätte man mich in dem typischen "Frag-den-Mann-auf-der-Straße"-Interview nach einer Zahl gefragt, ich hätte mich um den Faktor drei bis vier verschätzt. Ich wäre bei 10 % - 15 % raus gekommen.
Warum? Ich lese, höre und sehe auf allen Kanälen: Die Immobilienpreise explodieren. Ich lebe in Hamburg und kann das bestätigen. 2018 lag die Eigentümerquote deutschlandweit bei 46,5 %. Knapp die Hälfte aller Deutschen besitzen Immobilien und die werden immer wertvoller. 20 bis 30 Prozent der Immobesitzer sollten es doch schaffen, die halbe Million zu erreichen. Das wären dann die 10 bis 15 Prozent, die ich geschätzt hätte.
Und obendrauf kommen die ganzen Hodler und Crypto-Zaren (ein Lambo ist Sachvermögen).
Aber auch der Normalsparer sollte eine Chance auf etwas Merz haben: 2021 besaßen 12,1 Millionen Menschen Aktien oder Aktienfonds und der "MSCI World net" hat seit 2019 enorm zugelegt.
Jahr | Zuwachs |
---|---|
2019 | 30,02 % |
2020 | 6,33 % |
2021 | 31,07 % |
Beim S&P 500 sieht’s ähnlich aus. Die Emerging Markets liefen nicht ganz so gut (nur solide einstellig im Plus).
Das scheint aber irgendwie an der Masse der Bevölkerung vorbei gegangen zu sein.
Warum?
Grund 1
Vielleicht liegt es daran, dass die Pensions- und Rentenansprüche nicht berücksichtigt werden. Ein Studienrat wird mit A13 besoldet. Daraus ergibt sich eine überschlägige monatliche Pension von 3.000 Euro. Wenn ich mit Hilfe der Vier-Prozent-Regel einen äquivalenten Zahlungsstrom erzeugen möchte, brauche ich 900.000 Euro im Depot.
Während der Studienrat einfach nur ein pensionierter Studienrat ist, bin ich der Millionaire Next Door. Dabei ist der Herr Studienrat auch ein Vierprozenter.
Grund 2
Kognitive Verzerrungen in der Nachrichtenlage trüben das Bild.
- Verfügbarkeitsheuristik: Die Bewertung der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses hängt von der Anzahl der verfügbaren Beispiele ab. Die Anzahl der verfügbaren Beispiele, die auf das Thema "steigende Immobilienpreise" einzahlen geht gegen Unendlich. Egal ob Hamburger Abendblatt oder Twitter: Wohnungsnot ist immer.
- Aktualitätsverzerrung: Aktuelle Ereignisse werden gegenüber historischen bevorzugt. Das ist Feature, nicht Bug. Redakteure sind keine Historiker und Aktualität ist Trumpf.
Wo sitzen die großen Nachrichtenredaktionen? In Berlin, Hamburg und München. Was erfahren die Redakteure am eigenen Leib: In Mitte, Harvestehude und Schwabing wird es immer teurer. Die ganzen Preissteigerungen sind sicherlich korrekt, aber womöglich sind das Nachrichten von Millionenstädtern für Millionenstädter? Im Jahr 2020 verteilte sich die deutsche Bevölkerung wie folgt
Stadtgröße | Einwohner | Anteil |
---|---|---|
Millionenstädte: Berlin, Hamburg und München | 7 Millionen | 8,4 % |
restliche Großstädte (ab 100.000 Einwohner) | 19,6 Millionen | 23,6 % |
Mittelstädte (20.000 - 100.000 Einwohner) | 22,9 Millionen | 27,5 % |
Pampa | 33,7 Millionen | 40,5 % |
(Nebenstrang, hat jetzt nichts mit diesem Artikel zu tun, ist mir aber bei der Recherche aufgefallen: Vielleicht ist es bei dieser Bevölkerungsverteilung doch keine so gute Idee, den Verbrenner so zu shorten.)
Moers, Siegen und Hildesheim sind Großstädte. Brilon, Kamp-Lintfort und Bitterfeld-Wolfen sind Mittelstädte. Und dann sind da noch die 40 Prozent, die in Siedlungsformen mit weniger als 20.000 Menschen leben.
Zumindest in Bitterfeld-Wolfen boxt der Immopapst nicht im Kettenhemd. Der durchschnittliche Mietpreis für Wohnungen: 5,82 €/m², die Tendenz für das erste Quartal 2022: fallend. Meint ImmoScout24.
Und auch im schönen Brilon sind die Preise noch moderat, obwohl einer der großen Söhne der Stadt ja jetzt Karriere gemacht hat. Wer in Brilon den Merz machen will, braucht dazu entweder 16 Zimmer oder ein 1.300 Quadratmeter großes Grundstück. Der Rest krebst bei unwürdigen 300.000 Euro rum.
Mittelstädte plus Pampa, das bedeutet: 68 Prozent aller Deutschen haben die realistische Chance eine Immobilie zu besitzen und trotzdem nicht zum 4%-Club zu gehören.
Und was ist mit den Aktionären? Wie weit sind 12,1 Millionen von der halben Million entfernt? Hier eine Pressemeldung des Smartbrokers vom Dezember 2020
"Nach Angaben der wallstreet:online capital AG beträgt das durchschnittliche Depotvolumen der bereits aktiven Kunden circa 40.000 Euro. Der Wert übersteigt deutlich die Zahlen der Mitbewerber, die im Schnitt bei 30.000 Euro liegen."
Ernüchternd: Selbst wenn wir das verzehnfachen: Immer noch Kleinsparer.
Positiv: Für den durchschnittlichen Aktiensparer reichen die 801 Euro Freibetrag aus.
Grund 3
Was ist mit den ganzen Selbständigen und Unternehmern? Das Betriebsvermögen geht in die Bilanz ein. Sind so wenige Unternehmen 500.000 Euro wert? Was ist eine gut gehende Zahnarztpraxis wert? Oder ein Friseursalon oder ein REWE-Markt?
Ich weiß es nicht. Aber ich habe mit jemandem telefoniert, der seinen Lebensunterhalt mit der Bewertung von Firmen verdient. Seine Aussage: Wer eine Kanzlei, Praxis oder Beratungsfirma zu verkaufen hat, sollte - wenn überhaupt - mit einem niedrigen sechsstelligen Betrag rechnen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Die gutgehende Schönheitsfabrik von Dr. med Mabuse in Starnberg ist da nicht gemeint.
Das Institut für Mittelstandsforschung hat für 2019 die folgenden Zahlen ermittelt
- rund 4 Millionen Selbständige und Freiberufler
- rund 3,5 Millionen KMUs
Es heißt ja immer: Abhängig Beschäftigte können vielleicht wohlhabend werden; aber nur wer selbständig oder als Unternehmer arbeitet, kann es zu wirklichem Vermögen bringen.
Wir haben hier 7,5 Millionen Menschen, auf die das zutrifft. Aber was hat ein Selbständiger oder Freiberufler denn schon für ein Betriebsvermögen? Ein paar Schreibtische, ein bisschen IT, Aktenordner. Die Autos: geleast.
Und der Malermeister? Hat ein Lager mit Farbeimern und Pinseln. Das sind auch keine 500.000 Euro.
Das einzige Asset ist die Kundenkartei und da stellt sich die Frage: Was ist die wert? Wie viele Kunden kann der neue Besitzer halten, beziehungsweise wie viele will er überhaupt haben? Womöglich sind die Kunden mit dem Betrieb alt geworden und nerven nur.
"Beim alten Herr Müller habe ich meinen Steuerordner einfach abgegeben, wieso soll ich die Unterlagen jetzt in die Cloud scannen? Das kann ich nicht."
"Also hören Sie mal, die Frau Doktor hat das aber immer so und so gemacht… Das hat sich sehr bewährt." Ja, ist jetzt aber verboten. Die alte Frau Doktor hatte schlicht keinen Bock auf der Zielgerade noch mal zu investieren.
In sehr vielen Fällen ist das Betriebsvermögen eher Enttäuschung als Asset.
Grund 4
Reiche? Die gibt’s hier nicht. Ein weiser Freund hat einmal gesagt: Der kluge Mann fliegt unter dem Radar. Wer weiß, wie hoch die Dunkelziffer ist.
Zusammenfassung
- Die Aktiendepots sind kleiner, als man es nach der Lektüre der einschlägigen Foren vermuten würde. Hier berichten Einhörner und goldene Schwäne von ihren Taten.
- Immobilie ist nicht immer ein Synonym für Exponentialfunktion.
- Soo einfach scheint das mit der Selbständigkeit und dem Geld verdienen nicht zu sein. Oder leidet da jemand an Lifestyle-Inflation?
Können wir mit einer Verbesserung der Lage rechnen?
Die Reichtumsdaten werden alle fünf Jahre erfasst, hier die Zeitreihe
Jahre | 2002 | 2007 | 2012 | 2017 |
---|---|---|---|---|
> 500.000 € | 3,2 % | 3,2 % | 3,0 % | 3,8% |
- Zwischen 2002 und 2007 hat sich nichts getan. An der Börse waren das die Nullrenditejahre. Die Immobilienpreise stiegen, aber nicht so enorm.
- 2012: Die Lehmankrise von 2008 / 2009 ist noch nicht überwunden.
- 2017: Die lockere Geldpolitik macht vermögend. Egal ob Aktie oder Immobilie: Buy & Hold ist die Devise.
Was passiert, wenn die Assetinflation aufhört? Werden aus den 3,8 % dann wieder 3 %?
Fazit
- Verlass Dich nicht auf Dein Gefühl, recherchiere. Nur 4 %? Hätte ich nie für möglich gehalten.
- Pensions- und Rentenansprüche sind kein Vermögen.
Ich weiß nicht, ob ich es attraktiv finde, der Merz von nebenan zu sein. So vermögend, dass die Politik "Solidarität" einfordern kann und als Gruppe so klein, dass man nach dem Solidarität einfordern keine Wahl verliert.
Ich habe keine Glaskugel, ich kann die Zukunft nicht vorhersagen. Was aber klar ist: Klima, demographischer Wandel, Flüchtlinge, das kostet Geld.
Wo kriegt man das Geld her? Von den beiden Enden der Glockenkurve eher nicht.
- Die oberen vier Prozent der vier Prozent schachteln ihr Vermögen international und spielen die einzelnen Steuersysteme gegeneinander aus.
- Alle, die staatliche Hilfen erhalten sowieso nicht. Und alle die in Einzelhandel, Pflege oder Logistik arbeiten, auch nicht. Wer im öffentlichen Dienst bis A10 / E10 verdient ebenfalls eher nicht.
Wer bleibt als Geldquelle? Der gut verdienende Frugalist, der sich mit Weitblick ein Polster angelegt hat und im Lande bleiben möchte.
Was bleibt in dieser Situation? Die Stoiker.
"Greife diesen Gedanken auf, sobald der Tag anbricht, und denke Tag und Nacht daran: Es gibt nur einen Weg zum Glück, und der besteht darin, alles, worauf Du keinen Einfluss hast, aufzugeben, darüber hinaus nichts als Deinen Besitz zu betrachten, alles andere Gott und dem Schicksal zu überlassen."
Epiktet, Lehrgespräche, 4.4.39
Und da ist er wieder: Der Kontrollverlust. Heute in der Toga.
Die Taleb’sche Geflügelfarm gilt letztlich für uns alle.
- Die Truthahn-Prophezeiung: Die Lebenszufriedenheit ist kurz vor Thanksgiving am größten und Thanksgiving kommt. Das ist nicht zu ändern.
- Der Schwarze Schwan: Shit happens - Keiner von uns hat einen Anspruch darauf, vom Leben fair behandelt zu werden.
Aber: § 3 des kölschen Grundgesetzes gilt noch immer!